Russen zu Ukraine-Krieg: "Für skurrile Ideen sterben?"
Stimmung in Russland :Ukraine-Krieg: "Für skurrile Ideen sterben?"
von Marilen Martin
10.10.2022 | 06:55
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Die Erfolge der ukrainischen Armee bringen den russischen Präsidenten Putin in Bedrängnis. Mit einer Teilmobilisierung versucht er das Blatt zu wenden - die hat jedoch ihren Preis.
Russische Poilzeikräfte verhaften auf einem unerlaubten Protest in Moskau einen Demonstranten. (Archivbild)
Quelle: epa
Lange konnte der Krieg in der Ukraine von einem großen Teil der russischen Bevölkerung ignoriert werden. Die starken Verluste auf russischer Seite und die Teilmobilisierung der Zivilbevölkerung machen das nicht mehr möglich.
"Panik und Depression werden zur Norm"
"Ich bin überrascht, dass die Mobilisierung nicht früher erklärt wurde," berichtet Katya aus Moskau.
Sie bringt den Krieg in jede Familie und jedes Haus. Wir sind nicht mehr so von den Geschehnissen an der Front distanziert, wie wir es früher waren.
Katya, Moskau
Es kursieren Erzählungen in den sozialen Medien, dass ältere Männer ohne Militärerfahrung mitten in der Nacht eingezogen werden: Familienväter, Brüder, Söhne. "Die Menschen haben Angst", sagt ein Student, der lieber anonym bleiben möchte.
"Jetzt denkt jeder, er sei in Gefahr", bestätigt auch Eugene Finkel, Professor an der Johns-Hopkins-Universität in Bologna. "Durch die Logistik der Einberufungen kann es passieren, dass man eingezogen wird, obwohl man laut Gesetz nicht dazu verpflichtet ist. Und das passiert sogar in großen Städten. Das ist beunruhigend für die Menschen, weil es willkürlich ist."
Schock in Russlands Bevölkerung
Die Nesawissimaja Gaseta, eine der wichtigsten Tageszeitungen Russlands, schreibt, dass "die Teilmobilisierung das Boot der politischen Stabilität ins Wanken gebracht hat." "Panik und Depression werden zur Norm", so die Zeitung. Solche kritischen Töne aus den staatlich gelenkten Medien sind selten.
Doch sie spiegeln die Stimmung im Land wider. Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums in Moskau zeigen, dass die Zustimmungswerte für die Regierung und den Krieg erstmals seit Februar wieder leicht fallen. Fast ein Viertel der Befragten gab an, von der Teilmobilisierung schockiert zu sein - wesentlich mehr als zu Kriegsbeginn.
Schamgefühl unter fliehenden Russen
Ruslan, ein Privatlehrer aus Moskau, versteht nicht, warum er in den Krieg soll.
Es ist sehr nachvollziehbar, dass die Ukraine ihre Männer mobilisiert und diese Männer wissen, warum und wofür sie kämpfen müssen, sie verteidigen ja ihr Land. Aber warum müssen wir ein anderes Land angreifen? Warum muss man für irgendwelche skurrilen Ideen sterben?
Ruslan, Privatlehrer aus Moskau
Er hat mittlerweile das Land verlassen - so wie nach Schätzungen 700.000 weitere Russ*innen. Dennoch sagt Ruslan er habe "manchmal sowas wie ein Schamgefühl, zum Beispiel höre ich oft die Meinung von Europäern, dass wir Putin stürzen müssen, anstatt zu fliehen. Aber dann möchte ich diese Menschen fragen: Wie viele Diktatoren habt ihr persönlich gestürzt? Oder ist es beispielsweise Deutschen gelungen, ihren Diktator selbst loszuwerden?"
Ohnmacht, Gleichgültigkeit und Resignation
Nicht alle denken so wie Ruslan. Die Machtlosigkeit gegenüber den politischen Entscheidungen macht viele gleichgültig. Wlad sagt uns bei einer Straßenumfrage Ende September in Moskau:
Nun, wenn man mich einberuft, was soll man da schon tun? Da muss man wohl gehen.
Wlad, Moskauer
Viele haben weder das Geld noch die Kontakte, um Russland zu verlassen. Es ist daher fraglich, ob der Frust über die Teilmobilisierung tatsächlich Auswirkungen auf die politische Situation in Russland hat. "Ja, die Leute machen Videos, in denen sie sich über die schlechte Logistik der Einberufung beschweren, aber es geht nicht darüber hinaus", sagt Eugene Finkel. "Vielleicht ändert sich etwas vor Ort, aber das sehen wir momentan noch nicht."
Teil der Bevölkerung zum Kampf in Ukraine bereit
Und man darf nicht vergessen, dass ein Teil der Bevölkerung die Mobilisierung und den Krieg weiterhin befürwortet - auch wenn das laut Finkel eine Minderheit ist. Alexander sagt bei der Straßenumfrage, dass er bereit für die Mobilisierung sei.
Das ist alles für den Schutz unserer Heimat. Wir kämpfen gegen die Faschisten.
Alexander, Moskauer
Eine Frau aus Burjatien meint, "in unserem Dorf hat sich niemand versteckt. Wir müssen unser Vaterland verteidigen."
Ernüchterung in Teilen der Politik
Indes wird selbst auf hoher Ebene die Kritik an Putin lauter. Der Krieg läuft nicht gut für Russland, das leugnen selbst einige Parlamentsmitglieder und Journalist*innen nicht mehr.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.