Was der ukrainische Präsident von der EU, Deutschland und Olaf Scholz persönlich erwartet: Sehen Sie das ZDF-Interview mit Wolodymyr Selenskyj hier in voller Länge.
In Kiew hat sich der ukrainische Präsident den Fragen des ZDF gestellt. Sehen Sie das Interview hier in ganzer Länge.
ZDF heute journal: Herr Präsident, Sie leben und arbeiten in Ihrem Amtssitz verbarrikadiert hinter Sandsäcken. Doch die ganze Welt kennt Sie. Was hat das mit Ihnen persönlich gemacht? Wie hat Sie das verändert?
Wolodymyr Selenskyj: Es fällt mir schwer, Ihre Frage zu beantworten. Das sage ich ganz aufrichtig. Vieles hat sich geändert. Die Werte - ich habe mich verändert, unsere Bürger haben sich verändert. Das wichtigste ist in unseren Herzen als Priorität geblieben: Familie, Kinder, Staat, Frieden in diesem Staat. Das sind die wichtigsten Werte.
ZDF heute journal: Wie haben Sie sich verändert?
Selenskyj: Ich glaube, wir verändern uns alle nicht wegen der Umstände, sondern wegen unserer Herangehensweise, unserer Sichtweise darauf, was gerade passiert. Der Krieg ändert die Haltung zu vielen Anliegen, der Krieg ändert die Herangehensweise aus den Friedenszeiten.
Zu den Kriegszeiten kann man nachvollziehen, dass man nur wenig Zeit hat, man hat wenig Zeit als Mensch, man ist rund um die Uhr mit dem Krieg, mit der Arbeit beschäftigt. Das habe ich eingangs erwähnt: Man hat keine Zeit für die Familie und die Kinder, man versteht, dass man die Freizeit, die man mal hatte, nicht geschätzt hat.
Und wenn ich aufwache, denke ich, so Gott will sind in dieser Nacht möglichst wenig Menschen ums Leben gekommen. Das heißt, die Werte, die ich in der ersten Antwort erwähnt habe, und das, was ich denke, die Gedanken haben sich geändert. Die Prioritäten haben sich geändert, so ist es.
Der Präsident ist in Friedenszeiten eine Person, die gewählt wurde und Ergebnisse liefern soll. Dafür hat man so viele Stimmen bekommen. Man versteht diese hohe Verantwortung. Es gibt Aufgaben in der Wirtschaft, im Energiebereich, ja, es gibt Aufgaben, die der Krieg verursacht hat. Ein Präsident zu Kriegszeiten ist etwas mehr als ein Präsident für Menschen.
Menschen verlassen sich mehr auf den Präsidenten als auf sich selbst wie in Friedenszeiten. Menschen denken ans Überleben und nicht an das wirtschaftliche Wachstum einer Familie. Deshalb verlässt man sich mehr auf den Präsidenten, für Menschen ist er ein Symbol des Zusammenhalts. Man versteht als eine gesunde und adäquate Person, welche Verantwortung dahinter steckt. Diese Verantwortung ist unterschiedlich: meine Verantwortung als Präsident in Friedenszeiten und meine Verantwortung als Präsident in Kriegszeiten. Ich verstehe, dass diese Verantwortung größer geworden ist.
ZDF heute journal: Biden hat gesagt, er habe vor dem Krieg gewarnt, aber auch Sie hätten es nicht hören wollen?
Selenskyj: Ich glaube, dass die ukrainische Seite eine Frage stellen sollte und diese Frage sollte an viele europäische Staatschefs sowie an den amerikanischen Staatschef gerichtet sein. Es wäre gerecht, wenn man auf mich als ukrainischen Staatschef im Voraus gehört hätte, wenn man darauf gehört hätte, wovor wir gewarnt haben.
Ich meine Präventivsanktionen, damit der Krieg nicht beginnt; die Präsentation unserer Strategie bezüglich des Schwarzen Meers, des Aufbaus einer Schwarzmeerflotte mit einem Partnerland. Wir haben das vorgeschlagen, wir haben gesagt, dass Russland das Schwarze Meer blockieren wird.
Wir haben auch über das Raketenprogramm gesprochen, ich habe vor einem Jahr darüber berichtet und das Programm präsentiert, was wir an Luftverteidigung bräuchten, um uns zu schützen - und das ist die richtige Antwort auf Ihre Frage.
Wenn man mich doch gehört hätte, hätte die Ukraine mehr Chancen, die Invasion der Russischen Föderation aufzuhalten, die Signale, die Sie ansprechen, sie waren alle unterschiedlich. Schauen Sie mal, wenn alles so passiert wäre, wenn alle die Ukraine gewarnt hätten, dass es morgen zu einer flächendeckenden Invasion kommt, so stellt sich die Frage: Warum wurde der Luftraum nicht geschlossen, warum wurden uns keine Waffen vor dieser Invasion geliefert und warum wurden keine vorläufigen Sanktionen eingeführt, so dass der Präsident Russlands präventiv aufgehalten wird?
So würde ich das beantworten. Lassen Sie uns ehrlich sein: Wir haben uns darauf selbst vorbereitet, am Anfang hat uns niemand unterstützt und nun bin ich allen Partnern dafür dankbar, dass wir Unterstützung bekommen.
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110 Tage nach Kriegsbeginn hat es geklappt: heute-journal-Moderator Sievers ist nach Kiew gereist - dort hat sich der ukrainische Präsident Selenskyj unseren Fragen gestellt.
ZDF heute journal: Warum ist die Beziehung zu Bundeskanzler Scholz so kompliziert?
Selenskyj: Ich glaube, es gibt eine gewisse Skepsis in der Beziehung der Führung Deutschlands der Ukraine gegenüber. Ich glaube nicht, dass diese Skepsis auf Bundeskanzler Scholz zurückzuführen ist, ich glaube nicht, dass sie neu ist. Ich glaube, wir haben wunderbare Beziehungen zwischen beiden Völkern und recht gute Beziehungen zwischen den Führungen beider Staaten.
Aber ich glaube, diese Skepsis kommt vor allem zum Ausdruck, wenn es um die künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der EU und der Nato geht, diese Skepsis war leider auch in der Zeit vor Bundeskanzler Scholz zu spüren. Es gab diese Haltung und ich bin zuversichtlich, dass sich diese Haltung ändern wird.
ZDF heute journal: So sieht das gerade aus. Nun will der Kanzler ja nicht nur zu einem Foto-Termin nach Kiew kommen. Was konkret müsste es denn sein, was mehr als nur Fotos?
Selenskyj: Wir möchten auch nicht, dass er nur zu einem Foto-Termin kommt. Er meint wohl, wir hoffen auf die militärische Unterstützung der Ukraine seitens Deutschland. Ich glaube, er meint das.
Wir rechnen sehr damit, ich rechne sehr damit, dass Herr Scholz diese Zuversicht in seiner Antwort zum Ausdruck bringt. Es gibt aber auch die Frage der Sanktionen, die finanzielle Unterstützung, die die Ukraine braucht, und alle Sicherheitsfragen, mit denen er sich bestens auskennt. Was erwarten wir im Zusammenhang mit seinem Besuch? Ich würde gerne das folgende wichtige Anliegen präzisieren:
Ich glaube, das deutsche Volk hat das für sich selbst entschieden, der Führung fällt es schwer, denn es gibt viele verschiedene Herausforderungen. Ich kann das nachvollziehen. Nichtsdestotrotz rechne ich sehr damit.
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ZDF heute journal: Sie meinen, die Bundesregierung sucht noch immer die Balance zwischen Russland und der Ukraine?
Selenskyj: Es gibt viele wirtschaftliche Herausforderungen und sich für eine Seite zu entscheiden, fällt einem schwer, weil es schmerzhaft sein wird. Es wird wirtschaftlich schmerzhaft werden, unabhängig davon, ob man sich für die ukrainische oder für die russische Seite entscheidet. Wenn man den weniger schmerzhaften Weg wählt, ist es eine falsche Herangehensweise. Das meine ich.
Ich glaube, man sollte sich dafür entscheiden, wo es Wahrheit gibt, Rechte des Menschen, das Recht auf die Freiheit und die Souveränität des Staates und das Völkerrecht. Ich glaube, das ist wichtiger als diese oder jene Wirtschaftspriorität.
ZDF heute journal: Niemand liefert Waffen in ähnlich großem Umfang an die Ukraine wie Deutschland, sagt Scholz. Stimmt das?
Selenskyj: Ehrlich gesagt ist Deutschland etwas später als einige unserer Nachbarländer dazugekommen, was die Waffenlieferungen angeht. Das ist eine Tatsache, das bezieht sich nicht nur auf die Rhetorik, sondern auch auf die Tatsache.
Als erste, die uns zu helfen begonnen haben, waren es die USA, die Slowakei, Polen, Großbritannien. Das waren die ersten, die geliefert haben, Bulgarien und Rumänien haben auch geholfen, es ist klar, warum das so gekommen ist. Auch baltische Staaten, sie gehörten zu den ersten.
Unter diesen Staaten in Europa waren Deutschland und Frankreich etwas später dran, und das ist die Wahrheit, sie haben die Ukraine unterstützt. Sie haben gleich erklärt, dass dies eine Verletzung der Souveränität darstellt, politisch haben sie das gleich mitgetragen.
Aber damals am Anfang des Krieges brauchten wir nicht die Politik, sondern die Hilfe. Anschließend kamen andere Staaten dazu und Gott sei Dank, dass sie dazugekommen sind und uns helfen. Was den Umfang an gelieferten Waffen angeht, bin ich nicht bereit, die Aussage zu bestätigen, die Sie eben gemacht haben. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, was die Zahlen angeht.
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ZDF heute journal: Der ukrainische Eisenbahnchef stellt sich noch auf Jahre Krieg ein. Sind wir dem Anfang oder dem Ende näher an diesem 110. Tag?
Selenskyj: Es fällt mir schwer, etwas dazu zu sagen, weil es nicht an mir oder an Ihnen, Christian, liegt zu sagen, wann dieser Krieg zu Ende ist. Es liegt an der Bereitschaft der Russischen Föderation, den Krieg zu Ende zu bringen, und ihre Bereitschaft hängt von der Stärke der Ukraine ab.
Je stärker die Ukraine sein wird, je besser wir bewaffnet sein werden, umso schneller werden wir vorangehen. Je früher wir noch schneller vorangehen können und russische Truppen von unserem Boden verdrängen, umso schneller wird Russland bereit sein, den Krieg zu beenden.
Sie zählen die Opfer nicht, der russischen Regierung ist egal, wie viele Menschen ums Leben kommen, uns ist es nicht egal. Ihnen ist es egal, wie lange dieser Krieg dauert, denn sie verdienen im Grunde genommen durch Ölprodukte, durch Energieexporte. Uns ist all das nicht egal. Wir zählen alles, uns tut es sehr weh, wenn unsere Menschen ums Leben kommen. Je schneller die Ukraine gestärkt wird, je schneller Europa in den Sanktionen geschlossen auftritt, um Russland von großen Finanzströmen, die hinfließen, abzuschneiden, umso schwächer wird Russland sein.
Dann fängt man an nachzudenken. Jetzt überlegt man sich nur, wie man an der Macht bleibt und dafür braucht man die Unterstützung des Volkes im Lande. Wenn Menschen sehen werden, wie viele russische Militärleute auf unserem Territorium ums Leben gekommen sind, wenn Menschen nicht die Finanzmittel ausgezahlt bekommen, die sie heute ausgezahlt bekommen, wenn russische Unternehmer handlungsunfähig gemacht werden, verstehen sie, dass es Folgen einer Okkupation gibt.
Momentan sind die Folgen dieser Besetzung für sie noch nicht so bemerkbar. Sie denken nur an ihre Macht und an ihren Geldbeutel. Und das wäre alles. Alles ist recht zynisch.
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ZDF heute journal: Jetzt hat die Ukraine aktuell an der Front sehr hohe Verluste. Sie könnten auch entscheiden, die Front ein wenig zurückzuziehen. Dann müssten Sie möglicherweise Gebiete abtreten, auf der anderen Seite könnten Sie Verluste vielleicht vermeiden. Ist das etwas, was in Ihrem Kopf jeden Tag, jede Nacht abgewogen werden muss?
Selenskyj: Sie haben mit einer privaten Frage darüber angefangen, wie ich mich geändert habe, wie sich alles geändert hat. Nun beantworte ich diese Frage auch an dieser Stelle: Ich habe keine Zweifel, dass wir korrekt handeln, und das ist das Wichtigste: Die Änderungen, die ein Präsident zu Friedenszeiten durchmacht, und die ein Präsident zu Kriegszeiten durchmacht, da darf es keine Zweifel geben, gar keine. Man muss handeln, die Zeit spielt dem Feind und nicht uns zu.
Was ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist, wir sind auf dem eigenen Boden, das ist unser Volk, das ist unser Territorium und es tut sehr weh, Menschen zu verlieren, das ist so. Aber wir werden alles verlieren, wenn wir Russland in diesem Krieg unterlegen sind. Das Wichtigste, was mich von mir früher unterscheidet, ist: Ich suche keine Balance, wie man eine Balance findet, um irgendwie zu einem Abkommen zu gelangen. Wir wissen genau, was wir tun, ich betone:
Wir haben keine Zeit für Gespräche, die nichts bringen.
ZDF heute journal: Danke für das Gespräch.
Selenskyj: Auch Ihnen vielen Dank. Kommen Sie auch in friedlichen Zeiten nach Kiew. Es ist wichtig, dass Sie in Kriegszeiten hier sind. Und es ist sehr wichtig, dass Kanzler Scholz in Kriegszeiten hierher kommt. Das unterstreicht die Unterstützung der Ukraine. Davon gehen wir eigentlich aus.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.