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Im Zuge des Kriegs : Warum Kiew jetzt Straßen umbenennt

Datum:

Sowjetische Vergangenheit soll ukrainischer Identität weichen: In Kiew werden Straßen und Plätze umbenannt. Das ist nicht immer unumstritten.

Eine Drohne trägt eine große Nationalfahne vor dem ukrainischen Mutterland-Denkmal, am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine.
Eine Drohne trägt eine Nationalfahne vor dem ukrainischen Mutterland-Denkmal in Kiew.
Quelle: dpa

Weg mit Karl Marx, weg mit Rostow am Don, weg mit Peter dem Großen - stattdessen tragen die Straßen in Kiew nun die Namen der ukrainischen Stadt Luzk, des Volks der Huzulen oder von London. Angesichts des russischen Angriffskriegs forciert die Ukraine die sogenannte "Derussifizierung" ihres Landes. Und die beinhaltet auch die Umbenennung von 95 Straßen und Plätzen in der Hauptstadt Kiew.

Was steckt hinter der Umbenennung, warum ist sie wichtig für die Bildung einer ukrainischen Identität und welche Kritik gibt es? Ein Überblick.

Welchen Einfluss hat der Krieg auf ein neues Nationalgefühl der Ukraine?

Die Umbenennung der Straßen und Plätze in Kiew ist eine direkte Folge des Kriegs, das machte schon Bürgermeister Vitali Klitschko deutlich.

Das ist ein wichtiger Schritt dazu, um die verlogenen Manipulationen und den Einfluss des russischen Aggressors auf die Auslegung unserer Geschichte zu verringern.
Vitali Klitschko, Bürgermeister Kiew

Die Loslösung von Russland und der Sowjetvergangenheit und die Bildung einer neuen nationalen Identität bekamen nach dem Ende der Sowjetunion 1991 eine neue Dynamik. Diese ukrainische Identität definiert sich vor allem über den Unabhängigkeitskampf des Landes - und damit auch den Kampf gegen Russland und die Sowjetherrschaft.

Beschleunigt wurde die Bewegung im Zuge der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass. "2015 wurde eine Dekommunisierungsreform auf Basis von vier Gesetzen im ukrainischen Parlament verabschiedet, das unter anderem das Entfernen kommunistischer Symbole beinhaltete", erklärt Svetlana Suveica, Osteuropa-Historikerin und Professorin an der Uni Göttingen. In diesem Zuge wurden schon in der Vergangenheit Straßen und Plätze umbenannt oder sowjetische Denkmäler entfernt. Der Angriff Russlands hat diese Entwicklung noch einmal forciert.

In den vergangenen sechs Monaten ist die zivilgesellschaftliche Rolle in diesem Nationalbildungsprozess deutlich größer geworden.
Svetlana Suveica, Uni Göttingen

Dass der Krieg den Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft - auch des russischsprechenden Teils - gestärkt hat, bescheinigt auch Osteuropa-Historiker Kai Struve von der Uni Halle-Wittenberg.

Die aktuelle Umbenennung der Straßen ist eine Reaktion auf den russischen Krieg und solche Bestrebungen werden sicherlich noch weitergehen und sich verstärken.
Kai Struve, Uni Halle-Wittenberg

Der Prozess der Nationenbildung werde mittlerweile aber nicht mehr alleine über die Sprache oder Ethnien definiert, sondern durch Werte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, so Struve.

Welche Rolle spielen Straßennamen dabei?

"Die Umbenennung von Straßen ist zwar nicht essenziell. Sie ist aber als wichtiger Teil des neuen Nationalbewusstseins, der moralischen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit und allem, was mit dem Aggressor Russland verbunden ist, zu verstehen", sagt Svetlana Suveica.

Die neuen Straßen- und Platznamen stünden gleichzeitig in einer osteuropäischen Tradition, in der den Symbolen, die sich auf die Vergangenheit bezögen, eine wichtige Rolle bei der Bildung einer Nation zukomme.

Diese Symbole wurden vor allem von der Politik immer stark instrumentalisiert.
Svetlana Suveica, Uni Göttingen

Umso entscheidender sei nun, dass die Bevölkerung Teil des Umbenennungsprozesses sei. Mehr als 6,5 Millionen Menschen in der Ukraine hatten sich per App an einer Abstimmung zur Umbenennung beteiligt. Das stiftet Einheit - und diese ist vor allem in Kriegszeiten unerlässlich.

Montage: Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj vor einem Blick auf das zerstörte Mariupol

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Warum sind einige Straßennamen umstritten?

Durch die Umbenennung wolle die Gesellschaft sozialen Konsens erreichen und mit aller Kraft betonen, dass sie sich gegen den Aggressor Russland stellt, sagt Suveica. "Das bekommt dann zum Teil auch sehr ambivalente Züge, wenn ich etwa daran denke, dass der Name des russisch-ukrainischen Schriftstellers Michail Bulgakow entfernt werden soll", sagt sie.

Das sehe ich kritisch.
Svetlana Suveica, Uni Göttingen

Nicht ganz unumstritten ist auch die Umbenennung des Tulskaja Platzes - benannt nach der russischen Stadt Tula - in Platz der Helden der UPA. Die antisowjetischen Partisanen der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) sind bis heute historisch zwiegespalten zu sehen. Die UPA, die 1943 in der Westukraine den Kampf gegen die die deutsche Besatzung begann, verübte gleichzeitig Massenmorde an mehreren Zehntausend Polen. Als 1944 die sowjetische Armee in die Westukraine zurückkehrte, führte sie hier den bewaffneten Kampf gegen die Erneuerung der sowjetischen Besetzung bis Anfang der 1950er Jahre fort.

"Das wird in Polen sicherlich nicht auf Begeisterung stoßen", sagt Kai Struve mit Blick auf den neuen UPA-Platz. Vor allem in der Westukraine sei die UPA aber - ähnlich wie Stepan Bandera - nun mal mit dem historischen Kampf des Landes um seine Unabhängigkeit verbunden und verdeutliche den ambivalenten Blick, den die Ukraine auch selbst auf ihre Geschichte habe. "Diese Ambivalenz muss man berücksichtigen", so Struve.

In der ukrainischen, baltischen, polnischen Erfahrung ist die Erinnerung an die sowjetischen Massenverbrechen ähnlich stark verankert wie an die Verbrechen während der deutschen Okkupation. Daher haben sie auch einen anderen Blick auf die Geschichte als etwa wir Deutschen.
Kai Struve, Uni Halle-Wittenberg

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Diese Kontroverse habe in der Ukraine immer eine Rolle gespielt, erklärt Svetlana Suveica. "Der aktuelle Krieg hat da viel geändert, und neue Perspektiven aufgeworfen", sagt sie.

Diese historischen Kontroversen werden derzeit zum Teil ignoriert und verdrängt - auch weil sich Nationen in Zeiten des Krieges auf neue und alte Helden berufen - etwa die UPA.
Svetlana Suveica, Uni Göttingen

Das bedeute aber nicht, dass diese Fragen nach dem Krieg nicht wieder aufgegriffen würden - und die Diskussion um den UPA-Platz in einer rechtsstaatlich gefestigten, pluralistischen Gesellschaft weitergeführt würde.

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