Erstmals spricht Joe Biden als US-Präsident vor dem Kongress. Er wendet sich an die Nation und die Welt, er verbreitet Mut und Optimismus. Und Biden stellt revolutionäre Pläne vor.
"Er macht sich ans Werk wie ein Arbeiter", sagt Chris Spurry. "Er umgibt sich mit hochkompetenten, fähigen und anständigen Menschen. Jeder hat sein Ruder und rudert und macht seine Arbeit."
Es ist eine bemerkenswerte Begegnung mit einem Mann, der sein Leben lang schon Republikaner ist, und doch diesen neuen Präsidenten lobt: "Ich gebe ihm eine 1 plus." Diese Worte, die wir am Wochenende in Saint Michaels, Maryland, eingefangen haben, hallen nach. Im Landkreis Talbot an Chesapeake Bay stand es bei der Wahl im November Spitz auf Knopf: nur 0,5 Prozent betrug am Ende der Vorsprung für Joe Biden.
US-Präsident Biden hält Rede vor dem Kongress
Nun 100 Tage nach Amtsantritt steht der Demokrat im Präsidentenamt vor beiden Häusern des Kongresses, um Rechenschaft abzulegen. Einfacher könnte er es kaum haben: Fast 70 Prozent der Amerikaner finden sein billionenschweres Corona-Hilfspaket gut und seine Impfstrategie.
Natürlich hat Joe Biden das auch seinem Vorgänger zu verdanken, weil Donald Trump so viele Impfdosen bestellt hatte. Aber die Aufmerksamkeit für den Ex-Präsidenten hat nachgelassen, weil der Neue reichlich Furore macht. Auch bei dieser Rede. [Was Joe Biden vor dem Kongress sagte.]
Land erneuern - Millionen neue Jobs - Klimawandel bekämpfen
"America is on the move - Amerika ist in Bewegung", ruft er in den - pandemiebedingt - spärlich gefüllten Saal und beschreibt dann die größte Reformgesetzgebung, die das Land seit den 60er Jahren erlebt hat, als Lyndon B. Johnson mit seiner "Great Society" für mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit sorgte.
Mit dem Infrastrukturprogramm will Joe Biden das Land erneuern und dabei Millionen neuer Jobs schaffen. Gewissermaßen nebenher soll die Modernisierung auch zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen - durch den Umstieg auf Elektrofahrzeuge, den Ausbau der Netze für erneuerbare Energien und vieles mehr.
Revolutionäre Pläne für amerikanische Familien
Nicht weniger revolutionär klingt sein "neuer Plan für die amerikanische Familien", unter anderem mit einer Art Kindergeld, weitgehend kostenloser Kinderbetreuung und Fachhochschulausbildung. Das Gesamtpreisschild für seine Vorhaben ist schwindelerregend - sechs Billionen Dollar, die vor allem aus Steuererhöhungen für die Reichsten in der US-Gesellschaft finanziert werden sollen.
Bidens Rede und sein Programm sind zugeschnitten auf jene, deren Unzufriedenheit und Frust einst Donald Trump ins Amt spülten - die Arbeiter und der amerikanische Mittelstand.
Und das gelinge nur, "wenn jeder seinen Teil beiträgt", sagt der US-Präsident.
Republikaner - demonstrativer Nicht-Applaus
Die Antwort der Republikaner ist nicht nur demonstrativer Nicht-Applaus, sondern auch eine flammende Gegenrede von Tim Scott, Senator aus South Carolina. "Unsere beste Zukunft entsteht nicht aus Washingtoner Machenschaften oder sozialistischen Träumen", so Scott in seiner Videobotschaft, "Sie entsteht durch Sie, durch das amerikanische Volk."
Natürlich hat die Biden-Administration Schwachstellen, die größte ist die illegale Einwanderung. Allein im März kamen 170.000 illegale Einwanderer, darunter viele unbegleitete Kinder. Die Aufnahmelager sind überfüllt. Fast 60 Prozent der Amerikaner sehen Bidens unentschlossenes Einwanderungsmanagement kritisch.
Mehrheit der Bürger zufrieden mit US-Präsidenten
Trotzdem sind 53 Prozent zufrieden mit ihrem Präsidenten nach den ersten 100 Tagen. Vor allem, weil er ohne großes Drama seine Vorhaben vorantreibt, nur dann öffentlich auftritt, wenn er werben will für seine Reformgesetze. Die Schlagzahl ist extrem hoch bei den herausragenden Themen Pandemie, Wirtschaft, Polizeireform, Klimawandel und soziale Gerechtigkeit.
Nach einer neuen Umfrage von Yahoo News/YouGov wünschen sich 70 Prozent der Menschen, dass Demokraten und Republikaner dabei gemeinsame Lösungen entwickeln und Kompromisse eingehen. 58 Prozent glauben, dass Joe Biden genau das versucht. 61 Prozent werfen der republikanischen Partei vor, dass sie Biden so viel wie möglich behindern will. Mit anderen Worten: Die Republikaner schaden sich zur Zeit selbst am meisten, so sieht es auch Chris Spurry in Saint Michaels:
Spurry ist wütend auf seine eigene Partei, weil sie Fundamentalopposition betreibt. "Es gibt für bestimmte Themen 70 - 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung. Und dann haben wir eine Abstimmung im Senat, die halbe - halbe ausgeht (…) wegen Parteidenken, extremistischen und fanatischen Ansichten."
Banger Blick auf Zwischenwahl 2022
Die positive Stimmung im Land nach 100 Tagen neuer Regierung heißt längst nicht, dass Joe Biden und Kamala Harris ihre Mammutreformen erfolgreich umsetzen können. Lyndon B. Johnson hatte in den 60er Jahren eine deutlich größere Mehrheit im amerikanischen Kongress; und für die Neuen im Weißen Haus tickt die Uhr.
Damit bei der Zwischenwahl 2022 der Trumpismus nicht zurückkehrt, müssen die Menschen möglichst bald erleben, dass es ihnen besser geht. Ein Anfang dafür ist jedenfalls gemacht.