Abtreibungsurteil: Die Talibanisierung Amerikas | Meinung

    Kommentar

    Abtreibungsurteil in den USA:Die Talibanisierung Amerikas

    von Elmar Theveßen
    25.06.2022 | 20:09
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    Für einige erzkonservative Republikaner ist das Abtreibungsurteil nur der Anfang. Sie unterscheidet damit nicht mehr viel von den Ideologen der Taliban, meint Elmar Theveßen.

    Kommentar: Elmar Theveßen zur Abtreibungsentscheidung in den USA
    ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen kommentiert die Entscheidung des Obersten Gerichtsshofes der USA
    Quelle: ZDF/dpa

    Ist das nicht zu hart, von der Talibanisierung in Amerika zu schreiben? Nur, weil das doch recht liberale Abtreibungsrecht in den USA - Schwangerschaftsabbruch bis zur 24. Woche möglich, in Deutschland bis zur maximal 14. Woche - gekippt ist und jetzt in den jeweiligen Bundesstaaten neu geregelt wird? Aber das Urteil des Obersten Gerichtshofes geht weit über den Verzicht auf eine einheitliche Bundesregelung hinaus.
    In einigen Bundesstaaten soll Abtreibung ab der Befruchtung unmöglich sein - die Pille danach, ja sogar einige Verhütungsmethoden könnten unter Strafe gestellt werden. Selbst nach Vergewaltigungen wären Schwangerschaftsabbrüche in weiten Teilen des Landes nicht mehr möglich. Politiker dort denken auch darüber nach, Einwohnerinnen ihres Bundesstaats zu bestrafen, wenn sie für eine Abtreibung beispielsweise nach Connecticut reisen.

    Für Erzkonservative ist das Abtreibungsrecht nur der Anfang

    Erzkonservative Republikaner, darunter vor allem christliche Fundamentalisten aus der evangelikalen und der katholischen Kirche, treten die Rechte der Frauen mit Füßen. Oft trieft aus ihren Worten Verachtung für alle jene, die das anders sehen. Was das mit christlichen Werten zu tun hat, ist mir schleierhaft. Es sind die gleichen Radikalen, für die das Abtreibungsurteil nur der Anfang ist.
    Der oberste Bundesrichter Clarence Thomas hat daran in einer zusätzlichen Stellungnahme keinen Zweifel gelassen. Dieser Urteilsspruch des Supreme Court soll die Bahn frei machen für den tiefen Eingriff des Staates in die Privat- ja, die Intimsphäre der Menschen.

    "Don’t say gay"-Gesetz könnte Vorbild werden

    Verheirateten könnte die Nutzung von Verhütungsmitteln verboten werden. US-Präsident Joe Biden zeigte sich bestürzt:

    Das ist ein extremer und gefährlicher Pfad, auf den der Oberste Gerichtshof uns da führt.

    Joe Biden, US-Präsident

    Denn er könnte in weitere Abgründe weisen: Offenbar wollen die Fundamentalisten gleichgeschlechtliche Beziehungen und gleichgeschlechtlichen Sex ächten, vielleicht sogar kriminalisieren.
    Das sogenannte "Don’t say gay"-Gesetz in Florida, das es verbietet, das Thema Homosexualität in unteren Schulklassen auch nur zu erwähnen, ist nur ein Vorbote für das, was kommen könnte.
    Der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, ließ mehr als 40 Prozent der Textbücher an öffentlichen Schulen verbieten, weil ihm und seinen Helfern sexuelle Orientierungen und Minderheitenrechte zu oft erwähnt wurden.

    Abtreibungsurteil in den USA
    :Bald Strafverfolgung mit Zyklus-Apps?

    In Teilen der USA ist Abtreibung nun illegal. Behörden können gegen Frauen und Anbieter ermitteln. Digitale Daten in Gesundheits-Apps werden zum Risiko. Betroffene sind in Panik.
    von Nils Metzger
    Eine Zyklus-App auf einem Smartphone liegt im Badezimmer neben Slipeinlagen und einem Gefäß mit Tampons.

    Auch Bücher über den Holocaust verboten

    In einigen Landkreisen Amerikas werden bereits Bücher über den Holocaust, über den Rassismus in den USA und die Auswüchse des christlichen Fundamentalismus verboten.
    Was bitteschön unterscheidet diese menschenverachtenden und scheinheiligen Ideologen noch von den Taliban? Nicht mehr allzu viel.
    Elmar Theveßen ist Leiter des ZDF-Studios Washington.
    Lesen Sie hier, welche US-Bundesstaaten Abtreibungen verbieten oder das Abtreibungsrecht beschränken wollen:

    Nach Supreme-Court-Urteil
    :Diese US-Staaten wollen Abtreibung verbieten

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