In Kriegszeiten gilt manches als akzeptabel, was sonst für Aufruhr sorgen würde. Ukraines Präsident Selenskyj verbietet Parteien und legt TV-Sender zusammen. Ist das legitim?
Nicht nur militärisch versucht Wolodymyr Selenskyj Russland zu bekämpfen, auch innenpolitisch wehrt sich der ukrainische Präsident gegen einen russischen Einfluss im eigenen Land.
Mittels zweier Dekrete hat der ukrainische Präsident jüngst elf pro-russische Parteien verboten und will die ukrainischen TV-Sender zu einem Sendekomplex vereinigen. In Kriegszeiten legitime Schritte oder hat dies einen Zensur-Charakter?
Experten wie Dr. André Härtel von der "Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien" der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) halten Selenskyjs Maßnahmen in der aktuellen Krisenlage für wenig überraschend.
Einerseits stünden die Parteiverbote und der TV-Zusammenschluss in Kontinuität zum Vorgehen des staatlichen Sicherheitsrates der Ukraine gegen pro-russische Politiker und Oligarchen seit Februar 2021. "Zum anderen in direkter Verbindung mit den Notwendigkeiten des Kriegszustandes", sagt Härtel zu ZDFheute.
Oppositionsplattform will Verbote nicht einhalten
Selenskyj hatte am Sonntag bekannt gegeben, aufgrund des Angriffskrieges und Verbindungen einiger ukrainischer politischer Strukturen zu Russland, die "Aktivitäten einer Reihe politischer Parteien für die Dauer des Kriegszustands" auszusetzen. Ergänzend fügte er hinzu, dass Aktivitäten von Politikern, die auf Spaltung und Kollaboration zielten, keinen Erfolg hätten, sondern "eine harte Antwort erhalten" würden.
Die größte der betroffenen Parteien ist die "Oppositionsplattform - Für das Leben". Sie hält 44 von aktuell 423 Sitzen im ukrainischen Parlament. Ihr Parteiführer Viktor Medwedtschuk gilt als persönlicher Freund des russischen Präsidenten. Putin ist nach übereinstimmenden Medienberichten sogar der Taufpate von Medwedtschuks Tochter.
Die "Oppositionsplattform - Für das Leben" hält das Verbot von "antiukrainisch" bezeichneten Parteien für illegal. Es sei ein Versuch, den "Hauptgegner" mittels frei erfundener Vorwürfe zu beseitigen, so die Partei am Sonntag. Sie rief ihre Abgeordneten dazu auf, ihre Arbeit trotz des Verbots fortzusetzen.
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Experte: Pro-russische Akteure nicht unterschätzen
Die Vorwürfe gegenüber den Parteien sind durchaus berechtigt, sagt André Härtel. Von den betroffenen Personen und Parteien gehe tatsächlich eine bedeutsame Gefahr aus - nicht erst seit Kriegsbeginn. "Die Vorwürfe, systematisch gegen den ukrainischen Staat zu arbeiten, sind in den meisten Fällen zutreffend. Die finanziellen Möglichkeiten und Machtmittel dieser pro-russischen Akteure sind zudem nicht zu unterschätzen", so Härtel.
Doch die Verbote treffen nicht nur die offen russlandfreundlichen Parteimitglieder. Sondern auch diejenigen, die sich trotz ihrer Mitgliedschaft seit der Invasion klar gegen Russland ausgesprochen haben.
"Die Gefahr ist natürlich, dass man deren Wähler verschreckt und der russischen Propaganda über den Genozid an ethnischen Russen in der Ukraine zuarbeitet", betont Dr. André Härtel.
Verbote auch in den Medien
Selenskyj versuchte bereits lange vor Kriegsbeginn, den unerwünschten pro-russischen Einfluss zu minimieren - so auch im ukrainischen Fernsehen. Im Dezember 2021 beispielsweise hatte der Präsident zwei oppositionsnahe Fernsehsender - "Ukrlive.tv" und "Perwij Nesawissimij" - schließen lassen. Miteigentümer dieser Sender war Berichten zufolge Nestor Schufrytsch, ein Parlamentsabgeordneter der "Oppositionsplattform - Für das Leben".
Alle ukrainischen TV-Sender sollen zu einer Einheit werden
Nicht nur die Parteienlandschaft, sondern auch die der Medien hat sich in den vergangenen Wochen bereits deutlich verändert. So haben sich einige ukrainische Medien schon kurz nach Kriegsbeginn zusammengeschlossen.
„Wir müssen unterbrechen, wenn die Sirenen heulen“, so Nataliia Fiebrig, Ukrainische TV-Korrespondentin, „wenn wir nicht senden können, übernimmt ein anderer Sender“.
Mittels eines weiteren Dekrets will Selenskyj nun alle nationalen Fernsehsender "deren Programminhalt hauptsächlich aus "Informations- und/oder informationsanalytischen Sendungen" bestehen, zusammenlegen und eine "Unique News"-Plattform gründen.
Ressourcensparen oder Zensur?
Bei der Verwandlung einer pluralistischen TV-Landschaft in eine einheitliche, die durch Zentralisation auch weniger Personalaufwand hat, steht schnell der Vorwurf einer Informationskontrolle im Raum. Etwas, das seit Kriegsbeginn eigentlich eher Russland zur Last gelegt wird.
Laut Bundeszentrale für politische Bildung waren Freiheit und Pluralismus der ukrainischen Medien in der Vergangenheit bereits beeinträchtigt. Zum einen, da private Medien überwiegend einflussreichen ukrainischen Oligarchen und Politikern gehören. Andererseits gab und gibt es finanzielle Schwierigkeiten beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk.
Da die Ukraine sich im Kriegszustand befindet, werde der Informationsraum automatisch ebenfalls ein Teil davon - sowohl von russischer als auch von ukrainischer Seite aus, sagt Dr. Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu ZDFheute.
Auch, wenn man Selenskyjs Vorgehen zu normalen Zeiten womöglich als eine Art Zensur bezeichnen könne, gehe es aktuell darum, wie der ukrainische Staat die Bevölkerung weiterhin erreichen und gegen Desinformationen vorgehen kann. "In der Hinsicht halte ich diese Entscheidungen für legitim", sagt Meister.
Unabhängige Berichterstattung durch "Unique News" schwerer
Während eines Krieges geht es in der Kommunikation nicht nur darum, die Öffentlichkeit zu informieren. Sondern auch darum, Informationen über den Kriegsverlauf zu kontrollieren und keine ungewollten Details an den Gegner preiszugeben.
"Aber natürlich ist es problematisch, wenn es keine Medienvielfalt mehr gibt. Die zentrale Frage bleibt, wie unabhängig können Journalisten aus dem Kriegsgebiet berichten und inwieweit findet Zensur statt", gibt Stefan Meister zu bedenken. "Es wird auf jeden Fall zu weniger kritischen Stimmen kommen und patriotischer berichtet werden" - dies diene gleichzeitig aber auch dem Selbstschutz.
Der Kreml könnte das neue Dekret Selenskyjs nun für seine eigenen Zwecke nutzen: "Russland wird das natürlich propagandistisch ausschlachten und als Argument nutzen, die eigenen Maßnahmen im Inland zu legitimieren", so Meister. Wichtig zu betonen sei, dass die Medienlandschaft in der Ukraine auch mit der Vereinigung der TV-Sender trotzdem deutlich pluralistischer bleibt als die russische.
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