Spurensuche in der Ukraine: Kriegsstrategie Vergewaltigung?
Auf Spurensuche in der Ukraine:Kriegsstrategie Vergewaltigung?
von Julia Theres Held
08.07.2022 | 19:44
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ZDF-Reporterin Julia Held will herausfinden, ob Frauen in der Ukraine systematisch von russischen Soldaten vergewaltigt werden. Eine schwierige Recherche, die an die Grenzen geht.
Angesichts der Hinrichtungen, Folterungen und Erschießungen im Ukraine-Krieg in Orten wie Butscha und Irpin wird Vergewaltigung als Kriegsverbrechen oft als bloße Begleiterscheinung des Krieges betrachtet. Sexualisierte Gewalt gilt als Kriegswaffe, wenn sie systematisch eingesetzt wird. So wie zum Beispiel in Bosnien und Ruanda.
Wir wollen wissen: Werden auch in der Ukraine Vergewaltigungen gezielt als Kriegswaffe eingesetzt?
Tochter vergewaltigt, Schwiegersohn erschossen
Meine ukrainische Kollegin Alexandra Indyukhova und ich sind in einem kleinen Ort westlich von Kiew und haben den Hinweis bekommen, dass es hier zu Vergewaltigungen durch russische Soldaten gekommen sei. Die 65-jährige Valya ist bereit, mit uns zu sprechen. Was sie zu berichten hat, ist kaum vorstellbar.
Der Soldat hat gesagt: 'Gib uns deine Frau! Dann gehen wir.'
Valya, Anwohnerin Nähe Kiew
Anfang März seien sie mitten in der Nacht gekommen. Drei russische Soldaten hätten an ihre Tür geschlagen – betrunken und mit Sturmgewehren im Anschlag. Sie hätten ihrem Schwiegersohn befohlen, ihnen seine Frau zu geben. Als der sich weigerte, wurde er erschossen – von hinten. Valyas Tochter nahmen sie mit, brachten sie mit anderen Frauen in ein Haus und vergewaltigten sie dort. Ihr Anführer: Der Kommandeur der Truppe.
Frauen schweigen aus Angst
Wochenlang haben wir mit Expertinnen, Ermittlerinnen und Angehörigen gesprochen, haben Tatorte besucht und selbst vor Ort erlebt, was die Aufklärung von Vergewaltigungen in diesem Krieg so besonders schwierig macht.
"Viele der Opfer haben das Land längst verlassen", erzählt uns die Polizistin Olga Juskewitsch, als wir sie bei ihren Ermittlungen begleiten. Sie leitet eine Sondereinheit der Polizei zur Aufklärung von Sexualdelikten, die von russischen Soldaten begangen wurden, zieht von Dorf zu Dorf, sucht nach Hinweisen, spricht mit den Menschen.
Das Schwierigste sei, Vertrauen aufzubauen, berichten die Polizist*innen. Viele der Menschen seien immer noch schwer traumatisiert. Tief sitzt die Angst, dass die russischen Besatzer zurückkommen: Denn die russischen Soldaten haben gedroht, wenn sie zurückkommen, dass sie jeden umbringen würden, der von der Tat berichtet, erzählt uns Juskewitsch.
Mutmaßlicher Vergewaltiger und Soldat angeklagt
Die Generalstaatsanwältin Iryna Venediktova ermittelt und dokumentiert seit Monaten die in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen. Die wirkliche Dimension der Taten werde wohl erst nach dem Krieg bekannt werden, sagt sie. Viele der Opfer hätten noch nicht die Kraft, über ihr Leid zu berichten oder die Tat anzuzeigen.
Wir sind immer noch mitten im Krieg. Die Russen vergewaltigen, morden und foltern immer noch in den besetzten Gebieten. Es ist einfach schwierig, sexualisierte Gewalt aufzuklären, während der Krieg noch läuft.
Iryna Venediktova, Generalstaatsanwältin
Ein Fall aber ist bereits so gut dokumentiert, dass ein Gerichtsverfahren läuft. Der Verdächtige: der russische Soldat Mikhail R. - er soll nahe Kiew zwei Frauen vergewaltigt haben. Wo sich der mutmaßliche Täter aufhält oder ob er noch lebt, ist nicht bekannt.
Berichte über russische Soldaten, die in der Ukraine Frauen und Mädchen vergewaltigen, häufen sich. Eine Polizeisondereinheit will diese Verbrechen aufklären.06.07.2022 | 2:22 min
Kriegsverbrechen ja, Kriegswaffe nein?
Doch sind das alles nur Einzelfälle? Wir sprechen mit Human Rights Watch, wollen wissen, ob sie die Fälle für systematisch, gar von Vorgesetzten angeordnet halten. Belkis Wille versucht seit Monaten, in der Ukraine Opfer und Beweise zu Vergewaltigungsfällen zusammenzutragen. Ihre erste Einschätzung: "Ich habe erst vor Kurzem die Situation der Jesidinnen untersucht, wo Vergewaltigungen extensiv als Waffe eingesetzt wurden. Und das sieht doch anders aus."
Es scheint mir kein systematisches Ziel der russischen Armee zu sein, ukrainische Frauen zu vergewaltigen.
Belkis Wille, Human Rights Watch
Kriegsverbrechen seien es aber dennoch, die dringend aufgeklärt werden müssten.
Die Hoffnung auf Gerechtigkeit
Keine systematische Kriegswaffe, so der Stand jetzt, doch das hilft den Opfern wenig. Valyas Tochter ist mit ihrem kleinen Sohn nach Österreich geflüchtet und befindet sich in einer Therapie. Mutter und Tochter hoffen, dass sich die Soldaten, aber auch die russische Regierung für all das verantworten müssen.
Und wir begreifen, wie viele zerstörte Leben diese russische Brutalität zurückgelassen hat. Und dass die Aufklärung der Vergewaltigungen wohl gerade erst begonnen hat.
Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.