Ukraine-Krieg: Welche Rolle spielen die erbeuteten Panzer?
Gegenoffensive der Ukraine:Welche Rolle spielen die erbeuteten Panzer?
von Jan Schneider
20.09.2022 | 20:17
|
Die Ukraine hat mit ihrer Gegenoffensive große Mengen an Militärgerät und Waffen von den Russen erobert. Vieles davon ist noch intakt. Welche Rolle spielen die erbeuteten Panzer?
Die ukrainische Gegenoffensive im Nordosten und Süden des Landes hält weiter an. Neben den Geländegewinnen machen die ukrainischen Truppen dabei noch eine weitere, sehr wertvolle Beute: Russische Panzer und Waffensysteme, die von den teils fluchtartig zurückgezogenen Verbänden zurückgelassen wurden. Russland ist so mittlerweile unfreiwillig zu einem der größten Waffenlieferanten für die Ukraine geworden.
Welche Waffen und Fahrzeuge hat die Ukraine bisher erbeutet?
Einen Überblick über zerstörte und erbeutete Militärtechnik im Ukraine-Krieg versucht das Projekt Warspotting zu behalten. Dort werden Bilder aus öffentlichen Quellen ausgewertet und so eine Statistik des Ukraine-Kriegs geführt. Aktuell zählt das Projekt 372 erbeutete Panzer, gut 600 bewaffnete Truppentransporter und jede Menge Artillerie-Geschütze und Raketenwerfer. Allein in der Offensive um Charkiw soll die Ukraine 74 Panzer von russischen Truppen erbeutet haben.
Für Aufsehen hat am vergangenen Wochenende die Übernahme eines besonderen Kampfpanzers gesorgt: Der T-90M gilt als eines der modernsten russischen Panzermodelle und wird erst sei April 2020 vom russischen Militär eingesetzt. Außerdem wurden auch fortschrittliche Radarsysteme von den Russen zurückgelassen.
Erbeuteter T-90M in der Nähe von Charkiw
Ein Klick für den Datenschutz
Erst wenn Sie hier klicken, werden Bilder und andere Daten von Twitter nachgeladen. Ihre IP-Adresse wird dabei an externe Server von Twitter übertragen. Über den Datenschutz dieses Social Media-Anbieters können Sie sich auf der Seite von Twitter informieren. Um Ihre künftigen Besuche zu erleichtern, speichern wir Ihre Zustimmung in den Datenschutzeinstellungen. Ihre Zustimmung können Sie im Bereich „Meine News“ jederzeit widerrufen.
Besonders beachtlich sei dabei, dass ein Großteil der Ausrüstung völlig intakt erbeutet wurde, erklärt der Militärexperte Dr. András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gegenüber ZDFheute.
Ganze Munitionsdepots wurden intakt vorgefunden. Die sich zurückziehenden russischen Truppen haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu sprengen.
Dr. András Rácz
Eigentlich gibt es im russischen Militär ein klares Protokoll, was im Fall des Rückzugs zu tun ist - etwa zurückgelassene Panzer und Waffen unbrauchbar zu machen. Das sei in den meisten Fällen aber nicht passiert.
... ist Experte für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP). Zuvor war der Politologe außerordentlicher Professor an der Péter-Pázmány-Universität in Budapest und Mitarbeiter des Estnischen Instituts für Außenpolitik in Tallinn. Quelle: DGAP
Welche Bedeutung spielen die erbeuteten Waffen für die Ukraine?
Die erbeuteten Waffen spielen insgesamt eine große Rolle, erklärt Rácz. Zum einen, weil sie das Waffenarsenal der Ukraine verstärken, zum anderen aber auch, weil sie der russischen Armee fehlen werden.
Einen besonders dramatischen Verlust musste die russische Armee zum Beispiel südöstlich von Charkiw hinnehmen: In Balaklia konnten ukrainische Truppen eine russische Reparaturwerkstatt erobern und damit rund 200 moderne gepanzerte Fahrzeuge.
Hinzu komme auch noch der psychologische Effekt dieser Verluste. Die enorme Zahl an erbeuteten und intakten Waffensystemen und Panzern zerstöre das russische Narrativ, es habe sich bei dem Rückzug um eine "Umgruppierung" oder eine "Verlegung von Truppen" gehandelt.
Bei dieser riesigen Menge an Ausrüstung sieht es eher so aus, als seien die Russen davongelaufen.
Dr. András Rácz
Können die Panzer direkt wieder eingesetzt werden?
Erstaunlicherweise scheint das vielfach der Fall zu sein, berichtet Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr München.
Ich habe Berichte gelesen von Panzern, die von einem auf den anderen Tag die Besatzung von russisch zu ukrainisch gewechselt haben - sehr zur Freude der Menschen in den befreiten Gebieten.
Frank Sauer
Diese Einschätzung teilt auch Rácz. Wenn die Kommunikationssysteme umgestellt sind und die Farben der Ukraine aufgemalt sind - um nicht von den eigenen Verbänden als Feind eingestuft zu werden - können viele Fahrzeuge direkt wieder eingesetzt werden.
Ein großer Vorteil bei den erbeuteten Panzern sei außerdem, dass die ukrainische Armee sich mit der Technik besser auskennt als mit aus dem Westen gelieferten Waffensystemen. Auch Ersatzteile und Reparaturmöglichkeiten seien besser verfügbar. So können die Fahrzeuge nahezu sofort wieder eingesetzt werden.
Wie geht es nun weiter mit der ukrainischen Gegenoffensive?
Die Gegenoffensive der Ukraine wird sich verlangsamen, meint Rácz. Aber die erbeuteten Fahrzeuge seien exakt das, was die ukrainische Armee brauche, um sich weiter erfolgreich gegen den russischen Angriff zu wehren, da aus dem Westen bisher keine größeren Mengen an Kampfpanzern als Militärhilfe geliefert werden.
Die Ukraine werde die eroberten russischen Panzer nutzen, um ihre Bodengewinne abzusichern und tiefer in die besetzte Region Luhansk einzudringen.
Trotz der Erfolgsmeldungen der Gegenoffensive sei es jedoch zu früh, eine Entscheidung im Ukraine-Krieg abzuleiten, meint Racz:
Im strategischen Sinne hat Russland nach wie vor die Eskalationsdominanz und kontrolliert immer noch wirklich große Teile der ukrainischen Gebiete.
Dr. András Rácz
Die Gegenoffensive zeige aber, wie schlecht die nachrichtendienstliche Aufklärung des russischen Militärs funktioniert habe und wie miserabel es offensichtlich um die Moral der Armee bestellt sei.
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.