Keine Stimmzettel, keine Kabinen, Schlangen bis weit nach 18 Uhr: Am Super-Wahltag in Berlin lief vieles schief. Nun muss der Bundestag entscheiden, ob es Neuwahlen gibt.
Sechs Stunden lang liegen alle Peinlichkeiten des 26. September 2021 noch einmal auf dem Tisch. Diesmal in einem Sitzungssaal des Bundestages. Der Wahlausschuss hat sich sechs Stunden lang mit dem Einspruch des Bundeswahlleiters Georg Thiel beschäftigt, ob in sechs von zwölf Berliner Wahlkreisen die Bundestagswahl wiederholt werden muss.
Thiels Meinung ist eindeutig: Es gab in Berlin ein "komplettes systematisches Wahlversagen":
Und, so Thiels Hauptargument: Es ist auch nirgendwo anders passiert. Weder in Hamburg oder München noch nicht einmal ein Köln, als wegen einer Entschärfung einer Weltkriegsbombe die Wahl unterbrochen werden musste.
Fehler in 291 Wahllokalen nachweisbar
In Berlin gab es an diesem Herbsttag allerdings mehr Wahlen als sonst: Nicht nur der neue Bundestag wurde bestimmt, dazu kamen die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, zu den Bezirken und ein Volksentscheid. Erschwerend kam hinzu: Die halbe Stadt war gesperrt, weil an diesem Sonntag der Berliner Marathon stattfand. Eine Veranstaltung, die jedes Jahr Berlin in Ausnahmezustand versetzt.
Die Probleme kamen prompt: 2.117 Einsprüche lagen insgesamt gegen die Bundestagswahl vor, 90 Prozent bezogen sich auf Berlin. Dabei ging es um: falsche Stimmzettel, keine Stimmzettel, zu wenig Wahlkabinen, lange Wartezeiten, Wahlberechtigte, die wieder heimgeschickt wurden. In dem ganzen Durcheinander gaben auch Minderjährige ihre Stimmen ab.
In 291 Wahllokalen gab es eindeutig Fehler: In 116 Wahllokalen musste wegen fehlender Stimmzettel die Wahl unterbrochen werden. In 255 Wahllokalen wurde nach 18 Uhr noch gewählt, teilweise noch bis 19.30 Uhr, als im Fernsehen schon über die Hochrechnungen berichtet wurden.
Der Wahlausschuss muss nun entscheiden, ob diese Missstände echte Wahlfehler waren. Waren sie vermeidbar oder nicht? Und wenn es echte Fehler waren, haben sie sich auf die Mandatsverteilung ausgewirkt? Und wenn ja: Wäre eine Wahlwiederholung für 900.000 Menschen verhältnismäßig?
Obwohl die Pannen alle vier Wahlen betrafen, entscheidet das Berliner Landesverfassungsgericht unabhängig davon, ob die Wahl für Abgeordnetenhaus, Bezirke und Volksentscheid wiederholt werden muss.
Online-Nachschulung am Wahltag? Schwierig
Für Bundeswahlleiter Thiel waren alle Fehler vermeidbar. Zumal man in den Vorbesprechungen immer auf die Gefahren hingewiesen habe und von der Berliner Verwaltung die Antwort bekam: "Wir sind gut vorbereitet, wir haben alles im Griff!"
Die Berliner Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann hatte heute die undankbare Aufgabe, all diese Pannen erklären zu müssen. Am Wahltag selbst war sie nicht hauptverantwortlich, die Landeswahlleiterin ist inzwischen zurückgetreten. Trotzdem kennt sie die Vorgänge. Man habe die möglichen Probleme "sehr frühzeitig" im Blick gehabt, so Rockmann. Man habe mehr Wahllokale eröffnet, mehr Wahlhelfer eingesetzt. Die hatte man sogar mit einer vorgezogenen Corona-Impfung gelockt.
Dass diese nur die Impfung wollten und kurz vorher wieder absprangen, habe man einkalkuliert. Es habe keine "exorbitanten Absagen" gegeben, so Rockmann. Gut: Vielleicht war die Online-Schulung zu wenig, räumte sie ein. Und die noch einmal im Laufe des Wahltages anzuschauen, sei schwierig. Auch habe es viele unerfahrene Wahlhelfer gegeben. "Das war eine Herausforderung."
- Landeswahlleiterin tritt nach Pannen zurück
Lange Schlangen, falsche Stimmzettel: Nach den Pannen bei der Berlin-Wahl tritt die Landeswahlleiterin zurück. Eine Frage aber bleibt: Ist die demokratische Wahl beschädigt?
Wahlzettel im Rollkoffer und viele Widersprüche
Das Problem der Wahlzettel sieht Rockmann weniger: Man habe mehr als nötig gehabt. Allerdings: Manchen waren sie wohl einfach zu schwer. In Berlin ist es so, dass die Wahlzettel am Tag vorher vom Wahlvorstand abgeholt werden. 32,5 Gramm war der Papierstoß pro Wahlberechtigte schwer: ein knapp zehn Kilogramm schwerer Papierstoß pro 300 Wahlberechtigte. Damit diese überhaupt transportiert werden konnten, wurden extra Rollkoffer angeschafft.
Da pro Wahllokal etwa 750 Wahlberechtigte ihre Stimmen abgeben, sollte der zweite Schwung Wahlzettel im Laufe des Tages nachgeliefert werden. Doch diese kamen nie oder zu spät an: Denn der Lieferwagen steckte über Stunden wegen des Marathons im Stau auf der Stadtautobahn. Warum vorher niemand auf die Idee gekommen ist, diese Probleme vorher zu bedenken, fragte Ausschussvorsitzende Daniela Ludwig (CSU):
Manche Probleme lassen sich bis heute nicht aufklären. Dass Urnen angeblich auf dem Hof rumstanden zum Beispiel. Oder dass Ergebnisse gemeldet wurden, obwohl noch gar nicht ausgezählt war. Landeswahlleiterin Rockmann hatte alle Wahlvorstände um Stellungnahme gebeten, aus manchen Bezirken kam aber – nichts.
Oder sie kam unvollständig: Die Rubrik "fehlende Stimmzettel" gab es nicht auf dem Meldeformular. Und was nicht dokumentiert ist, ist jedenfalls offiziell auch nicht passiert.
Teil-Neuwahlen oder nicht?
Fraglich bleibt, ob die Pannen Auswirkungen auf das Ergebnis hatten. Auch da gibt es unterschiedliche Meinungen: Bundeswahlleiter Thiel sagt ja: Die Pannen allein seien "so schwerwiegend", dass das Wahlrecht eingeschränkt worden sei. Die Berliner Vize-Landeswahlleiterin Rockmann sieht das anders: Man könnte nicht quantifizieren, wie viele Menschen den von der Wahl abgehalten worden seien. Außerdem lag die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2017 nur wenig darunter:
Fraglich bleibt, wo diese Stimmen derjenigen, die nicht wählen konnten, gelandet wären. Der SPD zum Beispiel hätte etwa weitere 802 Zweitstimmen für ein weiteres Mandat gebraucht. Bei der CDU waren es mehr als 54.000.
Entscheidung bis zum Herbst
Ob und wo in Berlin die Bundestagswahl wiederholt werden muss, wird letztlich der Bundestag entscheiden. Denkbar wäre, dass nicht in allen sechs Wahlkreisen neugewählt wird, sondern nur da, wo die meisten Fehler passierten, etwa in Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf.
Der Wahlprüfungsausschuss wird zuerst geheim darüber abstimmen, ob er für oder gegen Neuwahlen ist und wird dies dem Bundestag vorschlagen. Ausschussvorsitzende Ludwig rechnet "nicht mehr vor der Sommerpause" damit. Auch liegt noch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Über das Berliner Ergebnis auf Landesebene soll im Herbst vom Landesverfassungsgericht entschieden werden.
Derzeit sitzen 29 Abgeordnete aus Berlin im Bundestag. Je drei Wahlkreise wurden direkt von CDU und Grünen gewonnen, die SPD gewann vier, die Linke zwei. Käme es zu Neuwahlen, hieße das vielleicht auch: Wer seit Herbst umgezogen ist, darf noch mal wählen.