Wäre die Wahlrechtsreform mit dem Grundgesetz vereinbar?

    Debatte um Größe des Bundestags:Wahlrechtsreform mit Verfassung vereinbar?

    von Jan Henrich und Charlotte Greipl
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    Die Ampel will das Wahlrecht reformieren, gegen Kritik aus der Union - die hält den Vorschlag gar für verfassungswidrig. Doch das Grundgesetz bietet Spielräume.

    Die Kritik aus der Union an der geplanten Reform des Wahlrechts ist deutlich: Der Vorschlag der Ampel-Koalition sei verfassungswidrig. CSU-Generalsekretär Martin Huber sprach sogar von "organisierter Wahlfälschung", die an einen "Schurkenstaat" erinnere. Staatsrechtler sehen das Modell allerdings weniger problematisch.

    Verkleinerung des Bundestags notwendig

    Wegen Überhangs- und Ausgleichsmandaten war der Bundestag immer weiter gewachsen - zuletzt auf 736 Abgeordnete. Die Regelgröße des Parlaments liegt bei 598 Abgeordneten. Je nach Modellrechnung könnten sogar über 900 Abgeordnete in den Bundestag gewählt werden. Dass das ein Problem für die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments darstellen kann, darüber herrscht in Berlin Einigkeit - allerdings nicht über die Lösung des Problems.
    Der Vorschlag aus der Ampel-Koalition: Überhangs- und Ausgleichsmandate sollen abgeschafft und die Zahl der direkt gewählten Kandidaten auf den Anteil der Listenstimmen begrenzt werden.

    Nur noch 598 Abgeordnete
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    Grundgesetz schreibt kein Wahlsystem vor

    Staatsrechtlerin Sophie Schönberger von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hält das für einen legitimen Weg. Der Gesetzgeber habe einen großen Spielraum zur Ausgestaltung der Regeln, so die Professorin für Öffentliches Recht.
    Ein besonderes Wahlsystem schreibt das Grundgesetz nicht vor. Die Bundestagswahlen müssen primär verfassungsrechtlich festgelegten Prinzipien folgen. Die Abgeordneten werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt, heißt es in Artikel 38 des Grundgesetzes.
    Danach sei das Modell nicht zu beanstanden, so Schönberger. Die Verfassungsrechtlerin geht sogar noch einen Schritt weiter, sie hält den Vorschlag für eine robuste und funktionale Lösung.

    Sophie Schönberger
    Quelle: privat

    ...ist Professorin für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Direktoriumsmitglied des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung. Sie studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Rom und Paris.

    Juristin sieht Grundcharakter der Verhältniswahl gestärkt

    Welche Rolle Wahlkreise bei der Bundestagswahl spielen und wie personalisiert die Wahl ausgestaltet ist, liegt grundsätzlich im Ermessen des Gesetzgebers. Die Union kritisiert, dass es gegen Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien verstoße, wenn gewählten Abgeordneten das Mandat verweigert werden würde.
    Schönberger hält dagegen, dass mit dem neuen Modell lediglich neue Regeln festgesetzt werden, wann Abgeordnete überhaupt als gewählt gelten. Der Entwurf stärke den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl, bei dem die Zusammensetzung des Parlaments die für Parteien abgegebenen Stimmen widerspiegelt. Diesen Grundcharakter hatte auch das Bundesverfassungsgericht in seinen bisherigen Entscheidungen zum Bundestagswahlrecht immer wieder hervorgehoben.

    Staatsrechtlerin: Weniger Wahlkreise würden Problem nicht lösen

    Eine andere Möglichkeit, um die Größe des Bundestags im Zaum zu halten: Die Anzahl der Wahlkreise reduzieren. In der vergangenen Legislaturperiode wurde bereits eine solche Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 280 ab Januar 2024 beschlossen. Sollte der Ampel-Vorschlag also nicht Gesetz werden, wird es so zu einer Verkleinerung des Bundestags kommen.
    Doch das Grundproblem wäre damit nicht gelöst, sagt Schönberger. Denn solange es Überhangs- und Ausgleichsmandate gibt, könne keine bestimmte Größe des Bundestags garantiert werden. Schönberger hält eine Reduzierung der Wahlkreise daher für das schlechtere Modell.

    Karlsruhe immer wieder mit Vorgaben

    Der Ursprung im Streit um das System der Bundestagswahl, er liegt in Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht 2008 aufgestellt hatte. Karlsruhe hatte damals Korrekturen beim Umgang mit Überhangmandaten gefordert, um dem Effekt des negativen Stimmgewichts entgegen zu wirken. Eine folgende Reform wurde 2012 erneut für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin wurde das System der Ausgleichsmandate eingeführt.
    Da die Union von ihrer Kritik an dem aktuellen Vorschlag der Ampel-Koalition voraussichtlich nicht abrückt, wird am Ende wohl auch jetzt wieder Karlsruhe das letzte Wort haben.
    Jan Henrich und Charlotte Greipl arbeiten in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.