Korruption in Ukraine: Antac-Aktivisten fordern Kontrollen

    Interview

    Korruption in der Ukraine:"So viel Geld ist eine große Versuchung"

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    Für Hilfsgelder zum Wiederaufbau der Ukraine fordern Anti-Korruptionsaktivisten unabhängige Kontrollen. Dies sei nötig, "damit keine Mittel verschwinden", so Aktivistin Shevchuk.

    03.07.2022, Ukraine: Völlig zerstörte Gebäude in Slowjansk.
    Viele Städte in der Ukraine sind vollkommen zerstört. Der Wiederaufbau wird viel Zeit und Kosten in Anspruch nehmen.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Welche Auswirkungen hat der Ausgang des Kriegs auf die Antikorruptionsmaßnahmen in der Ukraine?
    Tetiana Shevchuk: Wenn wir den Krieg verlieren, bedeutet das, dass alle unsere Antikorruptionsbemühungen umsonst waren, weil wir den Staat verlieren werden. Die Bemühungen der letzten acht Jahre werden verloren gehen. Sobald wir in irgendeiner Weise von Russland eingenommen werden - für Antikorruptionsarbeit wäre überhaupt kein Platz.

    Die ukrainische Nichtregierungsorganisation Antac (Anti-Corruption Action Center) wurde 2012 gegründet und widmet sich dem Kampf gegen Korruption. Transparency International listete die Ukraine 2021 als zweitkorruptestes Land in Europa hinter Russland auf.

    Quelle: dpa

    ZDFheute: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Ihre Organisation, sind viele Ihrer Mitarbeiter der Armee beigetreten?
    Shevchuk: In den ersten Kriegstagen, im Februar, sind mindestens sechs Mitarbeiter dem Militär beigetreten. Bei uns arbeiten ungefähr 22 Personen. Sie können sich also vorstellen, dass dies für uns ein ziemlich großer Anteil ist.
    ZDFheute: Millionen von Ukrainern spenden Geld an Hilfsorganisationen oder auch direkt an die Armee. Sie alle wollen sicher sein, dass dieses Geld auch ankommt. Verändert das die gesellschaftliche Einstellung zur Korruption?
    Shevchuk: Ich glaube nicht, dass es in den letzten acht Jahren eine duldende Einstellung zur Korruption in der Gesellschaft gab. Ich möchte daran erinnern, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj an die Macht kam: Er gewann eine beispiellose Mehrheit im Parlament mit dem Versprechen, die Korruption zu bekämpfen. Das war sein wichtigstes Wahlversprechen.



    ZDFheute: Und konnte die Selenskyj-Regierung ihr Wahlversprechen einlösen - vor dem Krieg, aber auch jetzt?
    Shevchuk: Seine Regierung hat in ihrem ersten halben Jahr wirklich einiges unternommen. Aber dann kam es zu einer Regierungsumbildung und es folgten politische Spielchen. Es gab Versuche, politische Kontrolle über Anti-Korruptionsbehörden zu erlangen. Natürlich rückte dieser politische Kampf wegen des Krieges in den Hintergrund.
    Und jetzt haben wir den Kandidatenstatus der EU erhalten, der bereits sehr strenge Auflagen oder Empfehlungen enthält, was die Ukraine in Sachen Korruptionsbekämpfung tun sollte. Wir sehen eine Dynamik bei der Untersuchung von Fällen politischer Korruption auf hoher Ebene. Also, im Moment würde ich sagen, dass die Reformen Fahrt aufnehmen, sie hören nicht auf.
    ZDFheute: Mit den Wiederaufbau-Hilfen werden Milliarden in die Ukraine kommen. Sehen Sie die ukrainischen Antikorruptionsbehörden dem gewachsen?
    Shevchuk: So viel Geld ist eine große Versuchung. Und es gibt nur sehr begrenzte Kapazitäten von ukrainischen Anti-Korruptionsbehörden, um groß angelegten Betrug zu verhindern oder zu bestrafen. Es muss unabhängige Experten geben, die die Budgets überprüfen, ob sie nicht überhöht sind. Das Gleiche gilt für Subaufträge für alle Waren und Dienstleistungen.

    Es muss bei Wiederaufbau-Hilfen immer eine Aufsicht bestehen, damit keine Mittel verschwinden werden.

    Tetiana Shevchuk

    Gerade für junge Menschen in der Ukraine, der "Maidan-Generation" ist der Kampf gegen die Korruption von entscheidender Bedeutung. Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit die Korruption als zweitwichtigstes Thema nach dem Krieg betrachtet.

    Gerade im Bereich der Transparenz hat die Ukraine große Fortschritte gemacht. Es gibt ein öffentliches Register, dass die Vermögenswerte eines jeden Ukrainers offenlegt und damit Anlass für Nachforschungen liefern kann. Die Anti-Korruptionsbehörde NABU wurde eigens dafür neu aufgebaut, ist politisch unabhängig und das Personal wurde durchleuchtet. Sie hat alle ermittlungstechnischen Befugnisse, darf Razzien durchführen und beschlagnahmen. Doch verfügt sie landesweit nur über 700 Mitarbeiter.

    ZDFheute: Wo sehen Sie die Ukraine im internationalen Vergleich bei der Korruptionsbekämpfung?
    Shevchuk: Ich denke, wir haben viele Meilen in verschiedenen Bereichen zurückgelegt, in einigen Bereichen sind wir sogar einigen westlichen Ländern weit voraus: Denn, wie dieser Krieg zeigt, waren viele europäische Länder anfällig für Russlands politische Korruption auf hoher Ebene.
    In anderen Angelegenheiten haben wir zwar viel Transparenz erreicht, aber es mangelt immer noch an Verantwortlichkeit. Ich denke, wir haben große Probleme mit der Rechenschaftspflicht. Und unser Justizsystem ist nicht perfekt, aber wir arbeiten daran.
    Das Interview führte ZDF-Reporter Dara Hassanzadeh.
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