Kommentar
Isoliert im Krieg?:Putin hat noch viele Freunde
07.06.2022 | 18:23
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Sitzt Wladimir Putin seit dem Angriff auf die Ukraine einsam ohne internationale Freunde im Kreml? Im Gegenteil.
Politische Freunde: Wladimir Putin und Indiens Premier Narendra Modi.
Quelle: Manish Swarup/ap
Bevölkerungsreichste Länder stellen sich nicht gegen Russland
Der Ex-Geheimdienstler kennt die Psychologie des empörten Westens sehr gut und spielt auf dem Klavier unserer Empfindungen. Während sich Politiker von Washington bis Warschau für das vielleicht umfassendste Sanktionspaket der Neuzeit auf die Schulter klopfen, umgeht Moskau die Swift- und Überweisungshürden, indem es Geschäfte mithilfe chinesischer Banken abwickelt.
Und das russische Öl, das in westlicher Richtung kaum noch fließen soll? Es findet dankbare Abnehmer zum Beispiel in Indien. Neu-Delhi unterhält beste Beziehungen zu Russland, kauft dort weiter Waffen. Nimmt man nur die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde, China und Indien, dann stellen sich allein damit schon mal die Regierungen von mehr als einem Drittel der Weltbevölkerung nicht gegen Russland.
Zählen wir noch afrikanische und lateinamerikanische Länder dazu, die sich bei UN-Abstimmungen durch Neinstimmen oder Enthaltungen aus der Affäre gezogen haben, dann bleiben Putin viele Freunde auf dem Globus. Wenn auch nicht in London, Paris oder dem Weißen Haus.
Allerdings werden es weiter draußen mit jedem Tag, an dem der Krieg sich ins Weltgeschehen einbürgert, eher noch ein paar Sympathisanten mehr. Der Alltag in Bangalore ist von Kiew mindestens so weit weg wie Bottrop es vom Schlachtenlärm im syrischen Aleppo war. Zerstörung und Opferzahlen relativieren sich mit geografischer und kultureller Distanz.
Neue Spaltung
Die Landkarte der nicht empörten Kantonisten oder Putinversteher deckt sich interessanterweise oft mit den Regionen der Welt, in denen schon früher das Ost-West-Schema spaltete. Ehemalige Kolonien, die sich nach der Unabhängigkeit dem Sozialismus und der Sowjetunion zuneigten. Frühere Blockfreie, die von beiden Seiten möglichst immer schon das Beste mitnahmen und dies auch jetzt tun.
So wie Serbien. Ein slawischer Freund und EU-Anwärter, bei dem Russlands Außenminister Lawrow in diesen Tagen gern mal vorbeigeschaut hätte. Bis ihm für den Weg dorthin die Überflugrechte versagt wurden.
Putin, der Anwalt der Underdogs?
Solche Brüskierungen zahlen allerdings auf das Konto Putins ein, der von Anfang an auf ukrainischem Boden einen Krieg gegen den Westen führte. Gegen die angebliche Arroganz, das westliche Ausbeutertum und Dominanzstreben, das er in jeder Rede seit Beginn des Angriffskrieges am 24. Februar beschwor.
Putin spielt auch hier seine Melodie, mit der er sich zum Anwalt aller gefühlt Entrechteten und Underdogs macht.
Staaten, die vom Turbo der Globalisierung eher abgehängt wurden, bei der Entwicklung zu demokratischen Systemen noch zwischen Baum und Borke hängen oder deren Selbstwertgefühl so instabil ist, dass der russische Bär ihnen freundlicher erscheint als der protzige amerikanische Freund. Nicaragua, Simbabwe, Kongo, Äthiopien – außerhalb der westlichen Komfortzone wird Putin mehr und mehr zum Heroen gegen die vermutete amerikanisch-kapitalistische Weltverschwörung. So verrückt das auch ist.
Putin als Retter vor der Hungersnot?
Wenn Getreideschiffe die Häfen der Ukraine nicht verlassen können, ist Putin für uns der Buhmann, der eine Hungersnot in Schwellenländern riskiert. Wenn sie am Ende doch in Afrika ankommen, wird Putin wissen, mit welcher Umdeutung er sich dort als Retter feiern lassen kann. Der erste Kornfrachter unter russischer Flagge hat das eroberte Mariupol schon mit Kurs auf Hungerländer verlassen.
Versorgungslinien Ost und West
Es gibt auch die geopolitischen Gewinner, die es sich jetzt zwischen den Stühlen bequem machen. Das erwähnte Indien mit neuen besten Kontakten nach Washington wie nach Moskau gehört dazu. Die USA sehen sogar von eigentlich vorgesehenen Sanktionen gegen Neu-Delhi ab, weil die Inder gerade Russlands S-400 Boden-Luft-Raketensystem gekauft haben. Indien ist einfach zu wichtig für die amerikanische Asienstrategie.
Und Russland? "Wir verkaufen euch alles, was ihr braucht", ließ der russische Außenminister die indischen Freunde wissen.
Die Lieferketten der Welt spalten sich wieder auf: In Versorgungslinien Ost und West. Dazwischen kein eiserner Vorhang mehr, sondern ein Paravent: Auf jeder Seite wird Geschichte anders erzählt.
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