Noch ist nicht genau absehbar, was das Schweigen während der Nationalhymne bei der WM für die iranischen Fußballer bedeutet. Auch ihren Familien könnte nun Gefahr drohen.
Selten ist Irans Nationaltrainer Carlos Queiroz so aus der Haut gefahren wie nach der Niederlage gegen England (2:6) bei der Fußball-WM im Zeltbau des Khalifa International Stadiums. Die Reporter aus aller Welt trugen Masken, als sich ein Fußballlehrer Luft verschaffte. "Moralisten und Lehrer, lasst die Kids das Spiel spielen. Nehmt Ihnen nicht den Spaß und die Fröhlichkeit", sagte er an die Journalisten gewandt.
Mit Kids hatte der 69-Jährige seine Kicker gemeint, die wirklich seine Kinder sein könnten. "Es ist nicht korrekt, sie Dinge zu fragen, für die sie nichts können." Damit meinte er die Thematisierung der Proteste im Iran. Der zurückgeholte Nationalcoach spürt, dass seine Spieler es bei den "brisanten Umständen" (Queiroz) gerade niemandem recht machen können.
Auch die WM in Katar wird genutzt, um auf die Situation im Iran aufmerksam zu machen. Im kurdischen Nordwest-Iran feuert die Polizei in die Menge, es gibt Tote und Verletzte.
Fußballer des Iran in schwieriger Lage
Durch das Schweigen beim Abspielen der Nationalhymne - kein Akteur bewegte die Lippen - hat die Mannschaft sich kritisch zum Mullah-Regime positioniert, das die Protestbewegung in der Heimat nach dem Tod der jungen kurdischen Iranerin Mahsa Amini gewaltsam niederschlägt.
Die Akteure von "Team Melli", wie die Nationalelf genannt wird, haben sich nun in eine schwierige Lage gebracht. Einerseits haben sie sich vor dem Turnier mit Präsident Ebrahim Raisi und Hassan Abbais, dem Chefstrategen der Revolutionären Garden, getroffen und einen treuen Eindruck gegenüber der Regierung erweckt. In Katar versicherten dieselben Akteure auf dem Trainingsgelände des SC al-Rayyan, dass ihre Aufgabe nur der Fußball sei.
Nun war der stille Protest eine klare Solidaritätsbekundung für die um die Freiheitsrechte der Frauen kämpfenden Demonstranten. Deren Slogan (Women. Life. Freedom.) trugen auch viele iranische Fans auf T-Shirts nach Katar. Die Szenen bei der Hymne blendete das iranische Staatsfernsehen kurzerhand in seiner Live-Übertragung aus.
Vielerorts wurde das Internet eingeschränkt. Das iranische Regime versucht, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen. Davon lassen sich die Demonstranten jedoch nicht entmutigen.
Konsequenzen für Spieler und Angehörige noch nicht absehbar
Das Regime soll zornig gewesen sein und wird überlegen, wie und wann die Fußballer ihren Unmut spüren werden. Auf jeden Fall müssen Familienangehörige damit rechnen, dass sie unter Druck gesetzt werden. Noch ist davon nichts bekannt, sagen Aktivisten, die mit der in Iran-Fragen gut informierten Berliner Organisation Discover Football vernetzt sind.
Die iranische Zeitung "Keyhan", die unter direktem Regierungseinfluss steht, stellte empört fest: "Unpatriotische Spieler haben die Nationalhymne nicht mitgesungen." Einigen Frauen im Stadion rannen in diesem Moment die Tränen über die Wangen. Soziale Netzwerke belegten, dass andere auch "bisharaf" gerufen haben. Das bedeutet "unehrenhaft" - und wird Sittenpolizisten, Revolutionsgarden und Mullahs im Zuge der aktuellen Proteste zugerufen.
Zudem skandierten einige auch den Namen von Ali Karimi. Zusammen mit Ali Daei ist der ehemalige Bundesligaprofi der populärste Fußballer des Landes, der durch seine klare Unterstützung für die Demonstranten für viele zum Nationalhelden geworden ist. Noch ist nicht klar, wie der eng mit den Herrschern verbandelte Islamische Fußballverband des Iran (FFIRI) handelt.
Die Demonstranten in Iran wollen das Regime loswerden, berichtet ZDF-Korrespondent Luc Walpot. Vor allem im Nordwesten des Iran werde brutal gegen die Proteste vorgegangen.
Kletterin Rekabi offenbar unter Druck gesetzt
Nationalcoach Queiroz will sich ganz auf den Sport konzentrieren - und kündigt für das nächste Spiel gegen Wales (Freitag) forsch einen Sieg an. Ansonsten wäre das Ausscheiden wohl schon besiegelt, bevor es zum politisch hochbrisanten letzten Gruppenspiel gegen die USA (29. November) kommt.
Was bei der Rückkehr passiert, darüber gibt es erste Mutmaßungen. Denkbar ist, dass die Spieler zu Aussagen verpflichtet werden, die lauten: "Wir waren so aufgeregt und überwältigt, dass wir den Text vergessen haben."
Die Sorge um die Iranerin Elnaz Rekabi ist groß. Sie war bei einem Wettbewerb ohne Kopftuch geklettert, später entschuldigte sie sich dafür. Aktuell steht sie unter Hausarrest.
Genauso war das erzkonservative Regime mit der Kletterin Elnaz Rekabi verfahren, die bei den Asienmeisterschaften ihr Kopftuch weggelassen hatte. Danach wurde die Sportlerin offenbar massiv unter Druck gesetzt und korrigierte ihre Aussage vor den Kameras der staatlichen Fernsehsender dahingehend, dass sie kurzfristig aufgerufen wurde und keine Zeit mehr hatte, das Kopftuch anzulegen.
Laut BBC Persian wurde sie zur Entschuldigung gezwungen, und Behörden hätten ihr gedroht, den Besitz ihrer Familie zu beschlagnahmen.