Selenskyj warnt Scholz im ZDF-Interview vor "Spagat"

    Ukraines Präsident im Interview:Selenskyj warnt Scholz vor "Spagat"

    Dr. Wulf Schmiese: Leiter der Redaktion "heute-journal" (2019)
    von Wulf Schmiese
    13.06.2022 | 20:13
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    110 Tage nach Kriegsbeginn hat es geklappt: heute-journal-Moderator Sievers ist nach Kiew gereist - dort hat sich der ukrainische Präsident Selenskyj unseren Fragen gestellt.

    Es war eine Eisenbahnfahrt ins Ungewisse. Lange schon haben wir versucht, im heute journal mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu sprechen. Nun hat es 110 Tage nach Kriegsbeginn geklappt: im Präsidentenpalast in Kiew von Angesicht zu Angesicht - und noch, bevor Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dort eintreffen wird.
    Unser Moderator Christian Sievers hat sich mit unserem Reporter Dara Hassanzadeh auf die lange Zugfahrt nach Kiew gemacht. Denn die ukrainische Seite hatte uns zu erkennen gegeben: Wer dort ist, hat bessere Chancen.

    Selenskyj mit müden Augen

    Wie sehr der Kriegspräsident unter Druck steht, war seinen müden Augen, seiner wohlüberlegten langsamen Sprache anzumerken. Wenig Schlaf, verriet er selbst, und viele Gedanken, in welchem Zustand sein Land nach jeder dieser kurzen Nächte sein werde. Die Zeit sei knapp zum Regieren, sagte er. Ein Bruchteil dessen nur, was er aus Friedenszeiten kannte.
    In seiner Stimmung zu Deutschland war er um Ausgleich bemüht. Ja, es habe lange eine skeptische Haltung zwischen beiden Regierungen geben, lange schon, bevor Scholz der Bundeskanzler war. Inzwischen seien die Beziehungen keineswegs schlecht.

    Präsident: Darf keinen Spagat zwischen Ukraine und Russland geben

    Frei von Skepsis an Scholz gab sich Selenskyj aber nicht. Er wolle noch etwas kritisieren, setzte er nach einer Antwort noch von sich aus an:

    Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt.

    Wolodymyr Selenskyj, ukrainischer Präsident

    "Er und seine Regierung müssen sich entscheiden: Es darf kein Spagat versucht werden zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland." Scholz sollte sich sicherer sein in seinen Beziehungen zu der Ukraine.
    In Kiew unterstellt man Deutschland eine Schaukelpolitik. Genauer gesagt: der deutschen Regierung. Das deutsche Volk habe seine Wahl bereits getroffen, lobte Selenskyj die offensichtliche Unterstützung der Deutschen für die Ukraine, markierte er den Unterschied, wie er ihn sieht.

    Selenskyj: Besuch von Scholz in der Ukraine wichtig

    Der deutsche Bundeskanzler müsse eine Position einnehmen und nicht suchen, wo es am wenigsten weh tut in den Beziehungen zu Russland und der Ukraine. Dieser Ansatz sei falsch. Die Bundesregierung dürfe nicht den geringsten Schmerz suchen für ihr Land. Soll heißen: mehr Härte gegenüber Russland, auch wenn es der deutschen Wirtschaft schadet.
    Es sei wichtig, dass Bundeskanzler Scholz im Krieg hierherkommt, sagte Selenskyj. Es dürfe dabei nicht nur um die Blitzlichtbilder gehen, was ja auch der Bundeskanzler als einzigen Grund einer Reise ablehne: Er geht davon aus, dass Scholz mehr Unterstützung zur Verteidigung aber auch für den EU-Kandidatenstatus anbiete. Auch hoffe er auf eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland.

    Vorwurf: Westen hat nicht rechtzeitig unterstützt

    Selenskyj hat dem Westen insgesamt vorgeworfen, nicht schon vor dem Krieg auf sein Drängen eingegangen zu sein, Russland in die Schranken zu weisen - etwa durch frühzeitige Waffenlieferungen.
    Deutschland habe wesentlich später als andere Staaten begonnen, die Ukraine militärisch zu unterstützen, kritisierte Selenskyj:

    Deutschland ist etwas später als einige unserer Nachbarländer dazugekommen, was die Waffenlieferungen angeht. Das ist eine Tatsache.

    Wolodymyr Selenskyj, ukrainischer Präsident

    Die USA, die Slowakei, Polen, Großbritannien "waren die ersten, die geliefert haben, Bulgarien und Rumänien haben auch geholfen", ebenso die baltischen Staaten., Deutschland und Frankreich hätten zwar politisch und rhetorisch die Ukraine unterstützt, "aber damals am Anfang des Krieges brauchten wir nicht die Politik, sondern die Hilfe". Inzwischen seien sie "Gott sei Dank" dazu gekommen um zu helfen. Über den Umfang der Waffenhilfe aus Deutschland wollte Selenskyj keine Aussage machen. 
    Erst eine vermeintlich schutzlose Ukraine habe zum russischen Angriff geführt, so die Logik des ukrainischen Präsidenten. Der Krieg könne nur enden, wenn die Verhältnisse eindeutig sind, sprich: die Ukraine gestärkt und Russland geschwächt werde, so Selenskyj.

    Selenskyj: Keine Zeit für Gespräche, die nichts bringen

    Auf die Frage, ob er für einen Frieden Gebietsabtretungen der Ukraine für ihn denkbar seien, antwortete Selenskyj: "Wir sind auf dem eigenen Boden, das ist unser Volk, das ist unser Territorium und es tut sehr weh, Menschen zu verlieren, das ist so, aber wir werden alles verlieren, wenn wir Russland in diesem Krieg unterlegen sind", sagte der Präsident.
    Er versuche nicht, "irgendwie zu einem Abkommen zu gelangen, wir wissen genau, was wir tun, ich betone, wir haben keine Zweifel, wir sind nur dann bereit, Gespräche zu führen, wenn die andere Seite bereit ist, dem Krieg ein Ende zu legen. Wir haben keine Zeit für Gespräche, die nichts bringen."
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    Es war für Präsident Selenskyj nicht nur ein weiteres Interview. Ihm ist bewusst, dass Millionen Menschen in Deutschland es sehen werden – vor allem der für ihn wichtigste Deutsche: Bundeskanzler Scholz, den er voraussichtlich am Donnerstag dort empfangen wird. Dort, wo Christian Sievers und Dara Hassanzadeh ihn extrem abgeschirmt getroffen haben.

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