Was ist aus Scholz "Zeitenwende" geworden?

    Interview

    Militärexperte kritisiert Scholz:Zeitenwende? "Mit Karacho gegen die Wand"

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    Im Februar rief Kanzler Scholz wegen des Ukraine-Krieges eine "Zeitenwende" aus. Was ist daraus geworden? Militärhistoriker Sönke Neitzel zieht eine bittere Bilanz.

    ZDFheute: Herr Professor Neitzel, am 27. Februar, kurz nach Russlands Invasion in der Ukraine, hat Kanzler Scholz eine "Zeitenwende" angekündigt. Wo stehen wir jetzt?
    Sönke Neitzel: Ich glaube, wir sind gerade dabei, die Zeitenwende mit Karacho gegen die Wand zu fahren. Denn, um was geht es bei der Zeitenwende? In meiner Interpretation geht es um die Herstellung einsatzfähiger Streitkräfte, einsatzfähig für die Bündnisverteidigung - und wir können es auch ein bisschen martialischer ausdrücken:

    Es geht letztlich darum, dass die Bundeswehr kriegsfähig wird, um das Nato-Territorium zu verteidigen.

    Wir können diskutieren, welche Reformen das im Einzelnen sein sollen. Aber da sehen wir einfach zu wenig. Wir sehen zu wenig Energie. Wir sehen zu wenig Reformwillen. Wir sehen keine Bereitschaft der Leitung des Bundesverteidigungsministeriums, wirklich groß zu denken und das auch umzusetzen, um wirklich die großen Probleme anzugehen. Und deswegen, glaube ich, sind wir gerade dabei, die Zeitenwende mit Karacho gegen die Wand zu fahren.

    Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam; Dresden; 13.11.2022
    Quelle: dpa

    ... ist Militärhistoriker und Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam. Davor lehrte er unter anderem an der University of Glasgow und der London School of Economics. Sein Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem bei der Militär- und Gewaltgeschichte der Moderne.

    ZDFheute: Stichwort Leitung - wer genau fährt die Zeitenwende an die Wand?

    Neitzel: Eine Verteidigungsministerin allein kann das nicht stemmen. Aber sie ist natürlich erst einmal die Ressortverantwortliche. Und letztlich müssen wir an Olaf Scholz denken. Christine Lambrecht ist von Olaf Scholz eingesetzt worden. Es ist seine Regierung, also, wir müssen auch auf diese Ebene schauen, auf das Kabinett.
    ZDFheute: Haben wir keine Persönlichkeiten, die Krieg und Krise können?
    Neitzel: Da müssen wir jetzt, nach einem Jahr im Amt, sagen: eher nein. Und das ist eben keine Fußnote. Wir sind eben nicht im Frieden. Es ist nicht egal, ob die Division einsatzbereit ist oder nicht. Das war über 20 Jahre lang egal. Das hat niemand interessiert, ob die Panzer fahren, die Flugzeuge fliegen, weil man sie eigentlich nicht brauchte.
    Jetzt brauchen wir sie aber, und das ist eben eine eminent politische Frage, weil den Preis wird letztlich nicht Frau Lambrecht oder der Generalinspekteur bezahlen, sondern Olaf Scholz. Denn er ist im Wort, und er wird auf dem Nato-Gipfel gegrillt werden von den osteuropäischen Partnern, von den USA. Wenn sie sagen, "Ihr habt eine Division versprochen und das, was Ihr dahinstellt, ist keine richtige Division".
    ZDFheute: Ist Christine Lambrecht die Richtige auf dem Posten?
    Neitzel: Also, ich will Frau Lambrecht nichts Böses, aber ich glaube nicht, dass sie in diesen besonderen Zeiten den Anforderungen des Amtes gewachsen ist. Ich glaube, dass wir da andere Gestalten brauchen, die einfach mehrfach Wissen haben, die diese komplexen Institutionen selber durchdringen können, die auch selber mehr erfahrene Leute mitbringen und die auch handlungsbereiter sind.
    ZDFheute: Aber haben wir die nicht auch - diese Reformer?
    Neitzel: Ich glaube, dass, soweit ich das beurteilen kann, Robert Habeck einen sehr guten Job macht. Er macht auch Fehler, aber ich sehe da im Haus mehr Gestaltungswillen, mehr Entscheidungswillen. Und im Bereich Verteidigungsministerium sehe ich diese Figuren nicht.

    Wir müssen in einer Krise Leute haben, die außerhalb ihrer Besoldungsgruppe denken, die groß denken, die Ansagen machen, die dem Kanzler Ansagen machen.

    Und die Chancen für Veränderungen sind jetzt groß. Dafür muss man aber groß denken. Dafür muss man auch mal ins Risiko gehen. Und da glaube ich, haben wir noch wirklich Luft nach oben. Ich bin sehr skeptisch, ob die jetzige Führungsmannschaft im Verteidigungsministerium das wuppt.
    ZDFheute: Was, wenn Zeitenwende nicht gelingt?
    Neitzel: Wenn die Zeitenwende uns nicht gelingt, ist das zunächst und vor allen Dingen ein Problem des Bundeskanzlers, denn der Bundeskanzler ist mit seiner Rede im Wort. Die Zeitenwende-Rede hat international, bei der Nato, bei den Partnern, einen enormen Eindruck gemacht, in Washington, in London, in Paris, in Warschau auch - und die Erwartung ist hoch.

    Wenn die Zeitenwende nicht gelingt, ist der außenpolitische Schaden immens.

    ZDFheute: Scholz will, dass Deutschland Garantiemacht für europäische Sicherheit wird, sagt er ...
    Neitzel: ... und ich kann das nicht mehr hören. Seit 2014 hören wir, "wir sind Führungsmacht, wir übernehmen mehr Verantwortung". Wer soll dann nach allem, was passiert ist, so schwer wie uns mit dieser Zeitenwende tun, das ernst nehmen? Wir haben eine Kompanie in die Slowakei verlegt. Wir müssen doch mal ganz ehrlich sein:

    Wenn sich die Ukraine, wenn sich Herr Selenskyj auf Deutschland verlassen hätte, würde es die Ukraine nicht mehr geben.

    Und das wird auch in den nächsten Jahren so sein. Wir haben doch Riesenprobleme. Wir haben keine Munition. Wenn ich sehe, was in der Ukraine täglich verschossen wird - der Bundeswehr ginge in einem solchen Krieg nach einem Tag die Munition aus. Und da sollen wir die Garantiemacht werden?
    ZDFheute: Fehlen da nicht einfach auch neue Denkansätze?
    Neitzel: Wir müssen, ich sage das so brutal, den Krieg in unseren Referenzrahmen wieder einbeziehen, leider. Nicht, weil Putin diesen Krieg führt. Wir müssen unsere Schlussfolgerungen daraus ziehen.

    Die Bundeswehr kann keine Feierabendtruppe sein, die mit Schaumgummibällen durch die Gegend fährt. Die Bundeswehr ist zur Androhung und Anwendung militärischer Gewalt da. Das ist ihr verfassungsmäßiger Auftrag, deswegen haben wir sie.

    ZDFheute: Was brächte ein Rücktritt? Würde ein Auswechseln der Ministerin die Zeitenwende nach vorn drücken?
    Neitzel: Also, Olaf Scholz wird sich in Sachen Rücktrittsgesuche nicht treiben lassen. Ich glaube schon, dass er sieht, dass im Verteidigungsministerium Underperformance praktiziert wird. Aber es geht natürlich auch immer um die Abwendung von Schaden, man will Unruhe vermeiden.
    Das Gespräch führte Ines Trams. Sie ist Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio in Berlin.
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