Nachspielzeiten bei der WM: Es geht in die Verlängerung

    WM in Katar:Warum die Nachspielzeiten Rekorde brechen

    von Frank Hellmann, Doha
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    Die Nachspielzeiten brechen bei dieser WM alle Rekorde. Genau das aber hatte die FIFA so gewollt - ihre Schiedsrichter setzen es in Katar auch rigoros um.

    Nachspielzeit WM 2022 - England - Iran
    Die Großbildleinwand zeigt die vierzehnminütige Nachspielzeit am Ende der ersten Halbzeit der WM-Partie zwischen England und Iran. Bei vielen anderen WM-Partien wurde ähnlich lange nachgespielt.
    Quelle: dpa

    Es ist eine lustige Sequenz im dem Film "Das Wunder von Bern", der 2003 in deutschen Kinos lief. In dem preisgekrönten Streifen von Sönke Wortmann stellt der junge Sportjournalist Paul Ackermann bei der WM 1954 dem Trainer Sepp Herberger eine Frage, verhaspelt sich furchtbar, worauf legendäre Satze fallen: "Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert 90 Minuten." Die Realität mit den 90 Minuten sieht längst anders aus, nicht erst bei der WM 2022. Und doch sprengt jetzt alles den Rahmen, wie ja so vieles in Katar: Nie dauerten Fußballspiele länger als bei dieser WM-Auflage.

    24 Minuten Nachspielzeit bei England gegen Iran

    Gleich am zweiten Tag bei der WM-Partie England gegen Iran (6:2) hängte Referee Raphael Claus (Brasilien) insgesamt gleich 24 Minuten Nachspielzeit dran: 14 Minuten nach einer Verletzungspause in der ersten, zehn in der zweiten Halbzeit. Was noch nicht ausreichte, weil kurz vor Ultimo noch ein zeitintensiver Videobeweis für einen Elfmeter anstand: Mehdi Taremi verwandelte in Spielminute 90.+13. Nie fiel seit der offiziellen Erfassung der Spieldaten bei einer WM ein späterer Treffer.
    Tags darauf gönnte Unparteiische Slavko Vincic (Slowenien) bei der Sensation zwischen Argentinien und Saudi-Arabien (1:2) 14 Minuten Zugabe. Also fast eine Halbzeit Verlängerung in zwei Spielen. Selbst als nun zwischen Dänemark und Tunesien (0:0) wenig passierte, spendierte Schiedsrichter wie Cesar Arturo Ramos Palazuelos (Mexiko) fünf Minuten Aufschlag. Mit einem späten Videobeweis waren es am Ende sieben Minuten.

    FIFA-Schiedsrichterchef Collina hatte das genauso gewollt

    Alle Spieloffiziellen handeln im Auftrag des Weltverbandes FIFA. Es scheint fast so, als sitze noch ein weiterer Aufpasser in einem imaginären Kontrollraum, der nicht nur bei Auswechslungen, Torjubel oder VAR-Einsatz die Uhr anhält, sondern auch bei Abstoß, Ecke oder Einwurf. Penibel drauf zu achten, dass der Ball in angemessener Zeit wirklich im Spiel ist, hatte FIFA-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina am Freitag im Qatar National Convention Center (QNCC) übrigens öffentlich angekündigt.
    "Wir werden die Nachspielzeit sehr sorgfältig kalkulieren und versuchen, die Zeit auszugleichen, die durch Zwischenfälle verloren geht", sagte der Italiener.

    Wir wollen nicht, dass es in einer Halbzeit nur 42 oder 43 Minuten aktives Spiel gibt, das ist nicht akzeptabel.

    FIFA-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina

    Der strenge Schiri-Chef mit der markanten Glatze kündigte vor dem Startschuss an, dass sieben, acht, neun Minuten Nachspielzeit pro Halbzeit zur Regel werden würde. Erfordert von den Fans kurzfristig viel Sitzfleisch. Und vom Fernsehen langfristig sogar eine andere Programmplanung.

    Im Handball oder Basketball zählt die Netto-Spielzeit

    Vor allem dann, wenn das WM-Beispiel in der Bundesliga oder den Europapokalwettbewerben Schule macht. Auch dort waren die Nachspielzeiten in den vergangenen Jahren angewachsen, doch hier sind eher drei, vier Minuten die Regel. In Katar aber kommt fast das Doppelte hinten dran. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob der Fußball nicht irgendwann den Beispielen aus dem Handball oder Basketball folgt, wo die Netto-Spielzeit zählt. Im Handball sind 60 Minuten angesetzt. Wäre das nicht auch ein Richtwert für den Fußball?
    Eine Untersuchung der UEFA ergab vor einigen Jahren, dass bei einer durchschnittlichen Spielzeit von 94 Minuten und 47 Sekunden in der Champions League die reine Spielzeit im Schnitt knapp über 61 Minuten lag. Eine neuere Studie der spanischen Zeitung "Marca" verglich Anfang des Jahres die Werte in den Topligen aus England, Deutschland, Spanien, Italien und Frankreich miteinander - und kam sogar nur auf 50 bis 52 Minuten, in denen der Ball wirklich rollte. Wenn also über eine Netto-Spielzeit verhandelt würde, kann die Weisheit von Sepp Herberger gar nicht mehr die Diskussionsgrundlage sein.

    Der frühere Fifa-Schiedsrichter Knut Kircher glaubt, dass sich die langen Nachspielzeiten auch in der Bundesliga durchsetzen: "Große Turniere waren schon immer ein Probierfeld für gewisse Neuerungen. Dieser Trend wird sicher auch in der Bundesliga ankommen", sagte Kircher der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten".

    Der 53-Jährige würde verlängerte Nachspielzeiten in der Bundesliga begrüßen: "Die Spieldauer war schon immer ein Gegenstand von Debatten. Längere Nachspielzeiten sind im Zweifel der richtige Ansatz, um Diskussionen zu minimieren." Dabei gelte eine Einschränkung: Wenn das Spiel längst entschieden sei, sollten die Unparteiischen das Spiel nicht aus reinen Formalitätsgründen in die Länge ziehen.

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