Eigentlich sollte Matteo Pessina gar nicht in Italiens EM-Kader stehen. Jetzt könnte der Spätberufene zum Faktor werden - und es Größen wie Rossi, Schillaci und Grosso gleichtun.
Italiens im Dezember verstorbenen WM-Helden Paolo Rossi besingt der Liedermacher Antonello Venditti in seinem Song "Giulio Cesare" als "ragazzo come noi" - einen Jungen wie wir. Der aktuelle Nationalspieler Matteo Pessina durfte nach seinem Tor zum 2:0 im EM-Achtelfinale gegen Österreich (2:1 nach Verlängerung) ganz ähnliche Sachen über sich lesen.
Eine Jugendsünde im Fokus
Das aber eher als Spätfolge einer Jugendsünde, mit der Pessina vor zwei Jahren viral ging. Die italienische Fußball-Seite "Calciatori brutti" teilte am Morgen nach dem Viertelfinaleinzug der Azzurri ein Foto von Pessina aus dem Jahr 2019.
Darauf zu sehen: Pessina, wie er lässig mit Surfergruß und Sonnenbrille zum Trainingsstart von Atalanta Bergamo trudelt, um die Schulter eine Stofftasche mit dem Logo eines Erotikportals.
"Du bist unser Fabio Grosso"
Die Reaktionen in der vergangenen Woche darauf: irgendwas zwischen "Ach, das war Pessina damals?" und Begeisterung. "Einer von uns", schreibt ein User. "Du bist unser Fabio Grosso. Dein Märchen ist noch nicht zu Ende", jubiliert ein anderer.
Gegen Letzteres hätten Italiens Tifosi vor dem EM-Viertelfinale gegen Belgien am Freitag (21 Uhr/ZDF) sicher nichts einzuwenden. Zumal der 24 Jahre alte Pessina die Zutaten für sein ganz persönliches Fußballmärchen mitbringt.
- Vladimir Petkovic - der Sozialarbeiter
Vladimir Petkovic hat es auf seine Art geschafft, die Schweiz als Team unterschiedlicher Kulturen ins EM-Viertelfinale zu führen. Dort ist Spanien der Gegner (Freitag 18 Uhr/ZDF).
Pessina - fast ein No-Name
Da wäre der fehlende Bekanntheitsgrad. Selbst in Italien ist der zentrale Mittelfeldspieler den Fans erst seit gut zwei Spielzeiten ein Begriff. Nach einer Leihe zu Hellas Verona 2019/20 eroberte Pessina in der abgelaufenen Runde einen Stammplatz bei Champions-League-Teilnehmer Atalanta Bergamo.
Dazu kommt, dass Pessina - Zutat Nummer zwei - eigentlich gar nicht für den 26-Mann-Kader der Azzurri vorgesehen war. Erst eine Woche vor dem Turnierstart rückte er für den verletzten Stefano Sensi nach. Beim 7:0 gegen San Marino Ende Mai war Pessina mit zwei Toren und so viel Präsenz aufgefallen, dass er nach Bekanntgabe des Teams auf Abruf an Bord blieb.
Pessina mit bisher zwei EM-Toren
"Ich habe mich immer als Teil der Gruppe gefühlt", sagt der Nachnominierte. Nationaltrainer Roberto Mancini, der stets betont, 26 Stammspieler zu haben, vertraut Pessina seit Ende 2020. Acht Länderspiele und vier Tore stehen dem Linksfuß seitdem zu Buche. Zwei davon erzielte der 1,87-Meter-Mann bei dieser EM.
Beim Vorrundenabschluss gegen Wales war Pessina einer der Besten in Italiens B-Elf. Ihm war auch der 1:0-Siegtreffer vergönnt. Gegen Österreich machte er als Joker den Unterschied.
Gegen Belgien wohl wieder in der Joker-Rolle
Nicht wenige fordern jetzt, den Senkrechtstarter anstelle von Inter-Star Nicolò Barella aufzustellen. Roberto "Mister" Mancini plant dagegen eher, Pessina und auch Federico Chiesa, den Torschützen zum 1:0, wieder von der Bank zu bringen, um adäquat nachlegen zu können.
Schon jetzt ist Pessinas Geschichte eine, die auch Italiens Rolle bei dieser EM treffend beschreibt. Denn der Status des Unbekannten, der nach Anerkennung strebt, trifft gewissermaßen auf die ganze "Squadra Azzurra" zu, die mit Weltranglisten-Primus Belgien zum ersten Mal bei dieser EM auf ein Top-Team trifft.
Das Abschneiden der seit 31 Spielen ungeschlagenen Italiener bei ihrem ersten Turnier nach der verpassten WM 2018 wird auch daran gemessen werden, ob sie einen Großen besiegen können.