Im Schatten der Pandemie hat die Zahl der Schiedsrichter im Amateurfußball einen neuen Tiefstand erreicht. Zwei der wichtigsten Gründe: viel Gewalt, wenig Wertschätzung.
"Das Wichtigste ist für mich die persönliche Entwicklung", sagte der 18-jährige Xander Brockmann jüngst dem Online-Portal Sportbuzzer über seine Tätigkeit. "Das sind Lernprozesse, die mich deutlich weitergebracht haben." Hellhörig wird man bei diesen Sätzen erst, wenn man weiß, worauf sie sich beziehen: Brockmann ist Nachwuchs-Schiedsrichter.
Freundlicher Empfang ist die Ausnahme
Wenn sonst von der Zunft der Unparteiischen die Rede ist, dann geht es im Profibereich meist um viel diskutierte Entscheidungen und bei den Amateuren um Gewalt und Spielabbrüche. Kaum eine Tätigkeit ist mit so vielen Widersprüchen behaftet. Ohne die Unparteiischen wäre weder der Volkssport noch das Milliardengeschäft Fußball möglich, aber Wertschätzung gibt es kaum für sie - weder finanziell noch ideell.
sagt die Kriminologin Thaya Vester von der Universität Tübingen gegenüber ZDFheute. Vester hat 2019 eine Studie über Gewaltphänomene im (Amateur-) Fußball vorgelegt und arbeitet im Augenblick für den DFB an der Analyse aller gewaltbedingten Spielabbrüche der Spielzeiten 2018/19 und 2019/20.
Aytekin: "Kein Respekt gegenüber unserer Arbeit"
In zahlreichen Interviews hat Vester Gewalterfahrungen beim Fußball als einen der Gründe für den Nachwuchsmangel bei Spielleitern ausgemacht. Deren Zahl sinkt seit Jahren kontinuierlich und ist in der Spielzeit 2020/2021 nochmal deutlich auf etwa 44.800 zurückgegangen.
Entmutigende Schlagzeilen
"Immer weniger Spiele können besetzt werden", sagt Vester, die auch Mitglied der DFB-Projektgruppe "Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen" ist. "Wenn dann Leute einspringen, die dafür nicht geschult sind, entstehenden neue Konflikte, die zu gewaltbedingten Spielabbrüchen führen können. Die Folge sind neue Schlagzeilen, die bei noch mehr Leuten zu der Frage führen, warum sie den Job machen sollen."
Dabei wirke nicht nur die persönliche Gewalterfahrung abschreckend. "Ich kann mich als Schiedsrichter auch unsicher fühlen, wenn ich sehe, wie die Spieler miteinander umgehen", sagt Vester.
Neues Projekt setzt an der Basis an
Vor der Corona-Pandemie sei es das größere Problem gewesen, die Nachwuchs-Schiedsrichter zu halten, damit sie nicht nach ein paar Einsätzen wieder abspringen, so Vester.
Nun komme seit zwei Spielzeiten in Folge auch kaum noch jemand nach und ein Aufhol-Effekt zeichne sich nicht ab.
DFB und Landesverbände wollen Trend entgegenwirken
Diesem Trend versuchen der DFB und die Landesverbände mit Werbekampagnen und Online-Schulungen entgegenzuwirken. Der DFB stellt allen Vereinen seit kurzem eine kostenlose Toolbox für die Schiedsrichtergewinnung zur Verfügung.
Vester selbst hat gemeinsam mit der Sportwissenschaftlerin Silke Sinning und Ralf Klohr, dem Erfinder der Fair Play Liga im Kinderfußball, eine Idee entwickelt, mit der Respekt und Kooperationsfähigkeit im Umgang mit Schiedsrichtern zurückkehren sollen.
DFB-Schiedsrichterchef Lutz Michael Fröhlich im Interview mit Sebastian Ehm über das striktere Durchgreifen bei Unsportlichkeiten, den Platzverweis von Gladbachs Alassane Pléa sowie den Umgang mit Schiedsrichtern im deutschen Fußball.
Fehlendes Angebot für Mädchen und Frauen
Das Projekt "MITEINANDER! – Perspektivwechsel im Basis-Fußball" verlängert Prinzipien der Fair Play Liga in die D-Jugend (12 -13 Jahre) und wurde bereits im Fußballkreis Rhein-Mittelhaardt getestet. "Die Spieler*innen sollen weiterhin mindestens über Aus und Toraus entscheiden, die Schiedsrichter*innen sollen sich auf Abseits, Rückpass, Handspiel und Tor konzentrieren können", heißt es im Projektbericht.
Unabhängig vom Fortgang dieses Projektes sieht Vester ein riesiges Potenzial an Schiedsrichterinnen, das bislang nicht ausgeschöpft wird. "Es gibt keine gezielten Angebote für Mädchen und Frauen", sagt die Kriminologin.
Umso mehr bedauert Vester, dass mit Bibiana Steinhaus das große Vorbild für Mädchen und Frauen nicht mehr aktiv ist.
Profifußball, Führungsposition, Frau: Eine Konstellation, die in Deutschland fast nicht vorkommt. Warum? Wir haben uns auf die Suche gemacht nach Frauen mit jeder Menge Expertise.