Die Niederländerin Sarina Wiegman ist auf bestem Wege, diesmal mit England ihre zweite EM zu gewinnen. Ihr Pragmatismus und ihr Perfektionismus sind ein Faustpfand.
Sarina Wiegman ist die aktuell mit Abstand prominenteste Frau im Land des EM-Gastgebers. Die Frau mit der Brille und der coolen Art ist derzeit von Morgens bis Abends im Fokus der Briten. Angefangen über die etlichen Gazetten, auf deren Titelbildern ihr Konterfei prangt, über TV-Präsenz im BBC bis hin zu Radio-Interviews - an Wiegmann führt an diesen letzten EM-Tagen kein Weg vorbei.
Wenn Englands Nationaltrainerin dieser Tage bei der Europameisterschaft zu den Pressekonferenzen erschien, konnte aber von einer promihaften Attitüde keine Rede sein. In erster Linie war die fokussierte Niederländerin damit beschäftigt, die überbordende Erwartungshaltung zu dämpfen.
Die Elf von Martina Voss-Tecklenburg steht am Sonntag im Londoner Wembley-Stadion gegen England im Finale. Der neunte Europa-Meistertitel ist nahe, Fans sind im Fußball-Fieber.
Ihr Team trennt nur noch das Finale gegen Deutschland (Sonntag 18 Uhr) vom Triumph, der dafür entschädigen soll, was den Männern vor einem Jahr in Wembley verwehrt blieb: beim Heimendspiel den EM-Pokal einzusacken. Es gibt zwar auch diesmal ein Alkoholverbot im Wembley-Park, aber keinerlei Zuschauerbeschränkungen. Und wohl auch weniger Selbstzweifel bei den erwarteten 87.000 Fans, von denen das Gros zum Gastgeber hält.
Die Spielidee erinnert an die holländische Schule
Englands Verband (FA) hat die Niederländerin schließlich auf die Insel gelockt, weil sie eben genau weiß, wie titeltaugliches Coaching bei einem Heimturnier geht: Bei der EM 2017 verwandelte sich der Endspielort Enschede in eine "Oranje"-Partymeile, in der Wiegmann auch am Ende wie ein nüchterner Fels in der Brandung wirkte. Im Gegensatz zu ihren Landsleuten hatte sie Vivianne Miedema, Lieke Martens und Co. die Sensation ja zugetraut.
Nun verfolgen Lucy Bronze, Leah Williamson und Co. dieselbe Mission - und ihre Matchpläne sind wieder von klaren Aufgabenverteilungen in einer fixen Stammelf geprägt. Nach dem Gegner richtet sich das Team am allerwenigsten. Wiegman will das so.
Wer Beth Mead (sechs EM-Tore) und Lauren Hemp an den Flügeln sieht, entdeckt eine Spielidee alter holländischer Fußball-Schule mit einer klassischen Mittelstürmerin. Wobei wohl auch im Finale die 33 Jahre alte Rekordtorjägerin Ellen White beginnt, auch wenn die zehn Jahre jüngere Alessia Russo nach jeder Einwechslung den besseren Eindruck macht.
Sie predigt den Spaß am Spiel
Trotz eines strengen Führungsstils werden ihr Pragmatismus und ihr Perfektionismus gelobt. Wiegman möchte ihrer Mannschaft den Druck nehmen und vermittelt lieber die Lust am Spiel, denn in ihrer aktiven Zeit "hatte ich manchmal nicht genug Spaß". Ihr Ensemble agiert immer mit voller Power.
Mittelfeldspielerin Keira Walsh sagte kürzlich: "Unsere Mentalität dreht sich nur noch darum, dass das Team gewinnt. Keine schmollt mehr, wenn sie ausgewechselt wird. Die Atmosphäre ist weniger angespannt."
Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg musste bei der Frage schmunzeln, ob es gelingen kann, die zwischendrin mit einer Covid-Infektion ausgefallen Kollegin auszucoachen. "Sarina hat schon in den Niederlanden bewiesen, dass sie ein Team zu einem Titel führen kann. Es wäre schön, wenn es bei einem Titel bleibt."
Millie Bright hat die Trainerin schon hochgehoben
Nicht einmal elf Monate haben dem "Superhirn" (The Independent) genügt, um aus den "Lionesses" wirklich das zu machen, was sich hinter ihrem Namen verbirgt: ein Rudel hungriger Löwinnen, die ihre Beute so lange jagen, bis sie erlegt ist. Die Fußballlehrerin gilt als Workaholic - lacht aber viel häufiger als bei der EM vor fünf Jahren. Mit Genuss saugt sie die Hingabe ihrer Wahlheimat zum Fußball ein.
In Sheffield haben die englischen Fußballerinnen Schweden mit 4:0 aus dem Rennen um die Europameisterschaft geworfen. England ist in Feierlaune, der Frauenfußball boomt.
Millie Bright, die wuchtige Abwehrchefin, hatte die Nationaltrainerin nach dem Kraftakt im Viertelfinale gegen Spanien (2:1 n.V.) freudig in die Luft gestemmt. Die Szene aus dem Falmer Stadium von Brighton lief später im Fernsehen rauf und runter. Weil sie viel über die enge Verbindung zur Mannschaft aussagt. Die Allianz soll nun nach 19 Länderspielen ohne Niederlage in der Krönung münden.