Von den 6.030 Zeilen des Koalitionsvertrages entfallen 33 auf das Kapitel Sport. Die haben es aber in sich, wie Politikwissenschaftler Jürgen Mittag gegenüber ZDFsport erläutert.
"Dem Sport wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als das in früheren Koalitionsverträgen der Fall gewesen ist", sagt Jürgen Mittag, der das Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln leitet. "Das ist in seiner Bedeutung mit der Notiz zum Anti-Doping-Gesetz und zur Förderung der NADA im Jahr 2013 vergleichbar, die erst nur am Rande bemerkt wurde und dann große Folgewirkungen gehabt hat", so Mittag.
Die schwarz-rote Koalition hatte 2013 die Kontrolle sowie Finanzierung der Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA) auf die Bundesebene gezogen und den Anti-Doping-Kampf intensiviert.
Aktivere Rolle der Politik
Im jetzigen Koalitionsvertrag spiegelt sich laut Mittag eine grundlegende Tendenz der vergangenen Jahre verstärkt wider: Die staatlichen Akteure nehmen eine wesentlich aktivere Rolle ein. "Sie setzen nicht nur allgemeine Rahmenbedingungen, sondern konkrete Akzente und geben Entwicklungspfade vor", sagt Mittag.
Corona-Auflagen und Mitgliederschwund erschweren den Vereinen im Amateur- und Breitensport den Trainings- und Spielbetrieb.
Dies betreffe vor allem Themen mit gesellschaftspolitischer Relevanz, die von den verantwortlichen Sportverbänden bislang nicht hinreichend bearbeitet worden seien.
Zwischen den sportpolitischen Zeilen des Koalitionsvertrages schimmert die Krise durch, in die sich die großen Sportverbände in den letzten Jahren hineinmanövriert haben, insbesondere die Führungskrise des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der am kommenden Wochenende sein Präsidium neu wählt.
DOSB verliert Kompetenzen
"Ein spannender Akzent wird im Bereich der Spitzensportförderung mit der Einrichtung einer unabhängigen Instanz für die Mittelvergabe gesetzt", sagt Mittag. "Das richtet sich zum Teil gegen den DOSB, der dadurch gewisser Kompetenzen entkleidet wird und in seiner jetzigen Verfassung nicht die schärfsten Schwerter in der Hand hat, um dagegenzuhalten."
Der DOSB selbst sieht im Koalitionsvertrag "viel sportpolitisches Potenzial" und hält sich mit einer Bewertung der unabhängigen Instanz zur Mittelvergabe erstmal zurück.
"Hier stehen allen Beteiligten sicher interessante Diskussionen bevor", heißt es in der ersten Stellungnahme. Besonders positiv werden dort die Pläne im Bereich Sportstättenbau, Breitensportförderung und Sportentwicklung gesehen.
Fehlende Verzahnung mit Gesundheitspolitik
Auch Politikwissenschaftler Jürgen Mittag sieht einen deutlichen Akzent in diesem Bereich: "Mit der Ausrichtung auf den Sportstättenbau, aber auch auf die Entwicklung nach der Pandemie, greift der Bund weitaus stärker in die Breitensport-Dimension des Sports ein als es bisher der Fall gewesen ist."
Einen Aspekt sucht der Experte allerdings auch in dieser neuen politischen Konstellation bislang vergeblich:
"Die Zusammenführung dieser beiden zentralen Problemfelder erfolgt auch im Koalitionsvertrag nicht", sagt Mittag: "Dort geht es um den Neustart des Sports nach Corona, aber nicht um die jetzige Situation, in der sowohl auf der Kinder- und Jugendseite, aber auch auf der Organisations- und Finanzseite existenzielle Probleme bestehen."
Psychische Gewalt, Medikamentenmissbrauch: Die Vorwürfe von Turn-Star Pauline Schäfer und anderen Kunstturnerinnen gegen ihre Ex-Trainerin Gabriele Frehse wiegen schwer. Diese widerspricht den Vorwürfen.
Kampf gegen Gewalt wird verstärkt
Eine Stärkung erfährt dagegen der Kampf gegen physische, psychische und insbesondere sexualisierte Gewalt, indem der Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport unterstützt werden soll.
Und auch beim Thema Menschenrechte wollen die Koalitionäre ernst machen. "Dem Verweis auf die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und Nachhaltigkeit bei der Ausrichtung und Vergabe von Sportgroßveranstaltungen messe ich große Bedeutung zu", sagt Mittag: "Das ist keine bloße Rhetorik, sondern wird die Entscheidungen für Bewerbungen tatsächlich beeinflussen."
Diese Akzente wollen die Ampelparteien setzen:
- Erarbeitung eines Entwicklungsplan Sport
- Investitions-Offensive im Sportstättenbau, insbesondere bei Schwimmbädern
- Mehr Transparenz und Effektivität in der Spitzensportförderung, unter anderem durch eine unabhängige Instanz bei der Mittelvergabe
- Förderung des Neustarts im Breitensport nach Corona
- dauerhafte Finanzierung der Vereinigung Athleten Deutschland e.V.
- Unterstützung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport
- Stärkung der Koordinierungsstelle Fanprojekte
- Reformierung der Datei "Gewalttäter Sport"
- Beachtung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und Nachhaltigkeit bei der Ausrichtung und Vergabe von Sportgroßveranstaltungen