Standardsituationen bei der WM: Die Kraft des ruhenden Balls

    Standardsituationen bei der WM:Die Kraft des ruhenden Balles

    von Frank Hellmann, Doha
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    Bei der WM 2018 fiel fast jedes zweite Tor nach einer Standardsituation. Der deutsche Individualtrainer Mads Buttgereit glaubt nicht, dass sich das in Katar wiederholt.

    DFB-Training
    Tore durch Standardsituationen sind ein effektives Mittel zum Erfolg. Auch im DFB-Training werden Freistöße und Co. geübt.
    Quelle: Imago

    Mads Buttgereit, beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) als Spezialtrainer für die A-Nationalmannschaft angestellt, ist international gut vernetzt. Den engsten Draht hält der sympathische Däne naturgemäß mit denjenigen Kollegen, sich jetzt bei der WM um dasselbe Fachgebiet kümmern: die Optimierung von Standardsituationen.
    Der 37-Jährige hat fast ein bisschen schmunzeln müssen, als er vor einigen Monaten hörte, wen der US-Fußballverband angeheuert hat: Lars Knudsen, einen ihm gut bekannten Landsmann, der für Dänemark früher die U18, U19 und U20 betreute und als Scout der A-Nationalmannschaft arbeitete, der ja auch Buttgereit diente, ehe ihn Hansi Flick am Telefon vom Nationenwechsel überzeugte.

    Die Zeit ist zu kurz, um alles praktisch zu erproben

    Nun also betätigt sich also auch der aus Aalborg stammende Knudsen in einem mit modernsten technischen Hilfsmitteln bestückten Nebenfach. US-Trainer Gregg Berhalter nennt solche Spielzüge vor der WM "einen entscheidenden Bestandteil für jedes Team." Wenn aus dem Spiel in Ermangelung von Vorbereitungszeit gar nichts mehr geht, soll der ruhende Ball helfen. Denn die USA wollen als einer der Gastgeber der Mammut-WM 2026 dieses Turnier nicht in den Wüstensand setzen. Knudsen brachte neben der Uefa-Pro-Lizenz auch einen Master-Abschluss in angewandter Philosophie als Empfehlung für die Anstellung mit.
    In die Köpfe der Spieler vorzudringen, ist für einen Spezialcoach elementar, sagt Buttgereit. Am liebsten würde er jeden Tag anderthalb Stunden mit den DFB-Stars an der Schusstechnik beim Freistoß oder dem Einlaufverhalten bei Ecken üben, doch so viel Zeit hat niemand. Und nun ist vor dieser WM auch noch ein richtiges Trainingslager ausgefallen. Vieles also wird in der Theorie besprochen, am iPad angeschaut - und schlussendlich darauf gehofft, dass es in der Praxis klappt.

    England war 2018 der Weltmeister der Standards

    Bei der WM 2018 hatte der ruhende Ball Hochkonjunktur. In den 64 Spielen fielen allein 70 Tore nach Freistößen, Ecken oder durch Elfmeter. 42 Prozent aller WM-Treffer - so viele wie nie zuvor. 2014 in Brasilien und 2010 in Südafrika war nur jedes vierte WM-Tor daraus entstanden. In Russland aber ging in den wichtigsten Partien nichts ohne dieses Stilmittel. 15 Teams erzielten damals mindestens 50 Prozent ihrer Tore nach einem Standard. Der Schotte Andy Roxburgh aus der Technischen Studiengruppe der Fifa führte den hohen Wert auf "Effizienz, Schnelligkeit des Handelns und des Denkens" zurück, aber dahinter steckte auch beinharte Arbeit.
    Stundenlang übten beispielsweise die Engländer unter Trainer Gareth Southgate ihre Eckball- und Freistoßvarianten, um kopfballstarke Spieler wie Harry Maguire, John Stones oder Harry Kane in die optimale Position zu bringen. Am Ende hatten englische Effizienzkünstler tatsächlich neun von zwölf WM-Toren auf diese Art erzielt. Vor Ausführung stellten sich oft mehrere Akteure in einer Reihe hintereinander auf - als würden sie am Tresen für ein Bier anstehen. Hinter den Formatierungen stand Allan Russell, ein zuvor in den USA tätiger Schotte, dem die - am Reißbrett geplanten - Spielzüge aus dem Basketball oder dem Football imponiert hatten.

    In der Premier League tummeln sich mehrere Spezialtrainer

    Die Engländer kamen zwar nur als WM-Vierte, aber als Könige des ruhenden Balles zurück auf die Insel. Danach, so hat es Buttgereit beobachtet, leistete sich fast jeder zweite Klub aus der Premier League mindestens einen solchen Spezialcoach. Bei Spitzenvereinen wie Manchester City sind es mittlerweile sogar zwei oder drei. Denn schlussendlich geht es ja nicht nur darum, aus Standards ein Tor zu erzielen, sondern sie auch erfolgreich zu verteidigen.
    Auch die Nationalmannschaften stellen sich besser auf Standards ein, was die Quote bei der WM 2022 auch wieder sinken lassen könnte, erklärt Buttgereit. Doch was in Katar wirklich passiert, vermag auch er nicht zu prognostizieren. Dass die DFB-Auswahl zuletzt nur mäßig erfolgreich mit ihren Standards war, nachdem in den ersten acht Spielen unter Flick gleich sechs solcher einstudierten Tore fielen, empfindet er übrigens nicht als Nachteil. Stichwort Überraschungseffekt.
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