Urteil mit "immensen Folgen":Arbeitszeit muss erfasst werden - für alle
von Christoph Schneider
13.09.2022 | 18:02
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Die Regierung plant schon länger, das Arbeitszeitgesetz zu überprüfen. Nun ist ihr das Bundesarbeitsgericht zuvor gekommen: Arbeitszeit muss erfasst werden.
Ein Mitarbeiter erfasst seine Arbeitszeit - das ist nun Pflicht.
Quelle: Sina Schuldt/dpa
Es war ein Urteil aus 2019, das viele so nicht mehr auf dem Radar hatten: Da entschied nämlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Fall aus Spanien zur Zeiterfassung: Arbeitgeber müssen ihren Mitarbeitenden "ein objektives, verlässliches und zugängliches System" anbieten, um ihre Arbeitszeit zu messen.
Seit drei Jahren rätseln Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, wie diese Entscheidung in Deutschland genau umgesetzt werden muss. Die Ampel-Koalition hat dazu im Koalitionsvertrag vereinbart: "Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein".
Arbeitgeber muss System zur Erfassung von Arbeitszeit einführen
Und jetzt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu einem Fall aus Nordrhein-Westfalen: Hier wollte ein Betriebsrat per Initiativrecht die Einführung eines elektronisches Zeiterfassungssystem in seinem Unternehmen erreichen. Doch der Betriebsrat hat grundsätzlich nur ein Mitbestimmungsrecht, keine Initiativrecht. So wurde die Klage abgewiesen.
Schon in der Verhandlung sagte die Präsidentin des BAG, Inken Gallner:
Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz nach Maßgabe des EuGH auslegt, dann besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung.
Inken Gallner, Präsidentin Bundesarbeitsgericht
So folgert das BAG aus der EuGH-Entscheidung und der Interpretation deutscher Regelungen: Nach aktuellem Arbeitsschutzgesetz ist der Arbeitgeber verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.
Im Klartext: Es besteht schon jetzt hierzulande eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. So sieht es auch der Hamburger Arbeitsrechtsexperte Professor Michael Fuhlrott: "Nach der heutigen Entscheidung gilt die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit unmittelbar. In ganz Deutschland, in allen Betrieben, für alle Beschäftigten."
Urteil zu Arbeitszeit setzt Politik unter Druck
Von einem Paukenschlag sprechen Kenner der Materie und sind sich einig: Der Gesetzgeber ist nun schnell gefordert. "Es ist davon auszugehen, dass die heutige Entscheidung auch neuen Schwung in das Gesetzgebungsverfahren bringen wird", so Michael Fuhlrott.
Der Gesetzgeber ist durch die heutige Entscheidung in großen Zugzwang geraten. Das Thema dürfte nunmehr ganz oben auf der politischen Agenda stehen.
Prof. Michael Fuhlrott, Arbeitsrechtsexperte
Gerade auch deswegen, weil die Regierungskoalition Vertrauensarbeitszeit erhalten möchte, obwohl aktuell jetzt die Stechuhr zurückkehren kann. Dadurch, dass mehr Kontrolle besteht, hat diese Grundsatzentscheidung gravierende Auswirkungen auch auf mobile Arbeit und Homeoffice.
Experte: Wohl wichtigstes Urteil des Jahres
Bislang war es nur üblich, Sonntagsarbeit und Überstunden genau festzuhalten, nicht aber die gesamte Arbeitszeit. "Wie die praktische Umsetzung der heutigen Entscheidung erfolgt, ist allerdings noch ungewiss", sagt Arbeitsrechtler Fuhlrott.
Was ist ausreichende Zeiterfassung, wie sieht sie aus – das sind Fragen, denen sich in den nächsten Wochen vor allen Dingen die Arbeitgeber verstärkt werden stellen müssen. Denn da ist sich Michael Fuhlrott sicher:
Die heutige Entscheidung dürfte die wichtigste arbeitsrechtliche Entscheidung des Jahres sein. Ihre Folgen sind immens.
Michael Fuhlrott, Arbeitsrechtsexperte
Christoph Schneider ist Redakteur in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz
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