Nach Berichten über Gräueltaten in Butscha wird der Ruf nach einem sofortigen Abnahmestopp Deutschlands von russischer Energie lauter. Was würde ein Embargo bedeuten?
Berichte über Gräueltaten an der ukrainischen Bevölkerung befeuern die Debatte über ein sofortiges Energie-Embargo. Die EU will ihre Sanktionen gegen Russland verschärfen und auch einen Importstopp für Kohle auf die Sanktionsliste setzen. Offen blieb zunächst, ab wann das Verbot gelten könnte.
Als Grund für die weitreichenden Vorschläge nannte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag explizit die am Wochenende bekannt gewordenen Gewalttaten im ukrainischen Butscha. "Diese Gräueltaten dürfen und werden nicht ohne Folgen bleiben", so von der Leyen.
Bisher hat die Bundesregierung ein sofortiges Embargo von russischem Gas, Öl und Kohle abgelehnt, weil sie die Folgen für die Wirtschaft für zu groß hält. Man arbeite aber daran, möglichst bald unabhängig von Energie aus Russland zu werden, so Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Dies müsse aber schrittweise geschehen.
Was Kohle anbelangt, wolle Deutschland bis Ende des Sommers frei von russischen Lieferungen sein, sagte der Minister zuletzt. Den jüngsten EU-Vorschlag zum Kohle-Importverbot unterstützt Habeck grundsätzlich, wie die Deutsche Presse-Agentur am Dienstag aus Kreisen des Ministeriums erfuhr. Es entspreche der Linie des Ministeriums, die Unabhängigkeit von russischen Energieimporten Sparte für Sparte und schrittweise zu erreichen.
- Folgen eines russischen Kohle-Importstopps
Die EU plant weitere Sanktionen gegen Russland - erstmals steht ein Importverbot von Kohle im Raum. Was wären die Folgen für Deutschland?
Was würde ein Embargo von russischer Energie für Deutschland bedeuten? Ein Überblick.
Wie abhängig ist Deutschland von Russlands Energie?
Deutschland ist sehr stark abhängig von russischer Energie. 2021 bezog die Bundesrepublik laut Daten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe über 50 Prozent ihres Bedarfs an Erdgas aus Russland. Das Wirtschaftsministerium erklärte jüngst, beim Gas sei dieser Anteil inzwischen auf gut 40 Prozent gesunken. Bis zum Sommer 2024 könne es gelingen, weitgehend unabhängig zu werden. Das hänge aber vom Tempo des Ausbaus erneuerbarer Energien und vom Umfang der erzielten Energieeinsparungen ab.
An den Einfuhren von Erdöl hatte Russland 2021 einen Anteil von 34 Prozent - bis zum Sommer 2022 könnten die Importe halbiert werden, so das Wirtschaftsministerium.
Bei der Kohle ist Russland für Deutschland Lieferland Nummer eins: 2020 kamen 45 Prozent der eingeführten Hartkohle und Hartkohleprodukte wie Briketts oder Koks dorther, 2021 erhöhte sich der Anteil nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf 57 Prozent. Kohle kann Deutschland jedoch einfacher ersetzen als russische Gas-Importe, die nach Angaben des Wirtschaftsministeriums bis 2024 benötigt werden.
- EU will Kohle-Importe aus Russland verbieten
Nach den Gräueltaten in Butscha drohen Moskau weitere Sanktionen und eine verschärfte Isolation. Die EU-Kommission will Kohle-Importe aus Russland verbieten.
Was sind die Befürchtungen der deutschen Industrie?
Vor allem in der gashungrigen Chemie- und Pharmabranche, aber auch in der Stahl-, Keramik- und Glasindustrie sind die Sorgen vor einem plötzlichen Ausbleiben russischer Energie groß. Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, sagte jüngst:
Ein Embargo hätte laut Entrup Folgen nicht nur für die chemisch-pharmazeutische Industrie, sondern "über ihre Funktion in den Wertschöpfungsketten auf das gesamte Produktionsnetzwerk" Deutschlands. Während Öl teils aus anderen Regionen beziehbar sei, gebe es bei Gas keinen kurzfristigen Ersatz.
"Wir rufen die Bundesregierung dazu auf", so Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Deutschland, mit Blick auf ein Embargo für Energieträger aus Russland. "Alles andere wäre ein Schlag ins Gesicht."
Wie schätzen Ökonomen die Risiken eines Embargos ein?
Dass ein Embargo Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft haben würde, darüber sind sich die Ökonomen einig, weniger aber über das Ausmaß der Folgen. Volkswirte der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung etwa rechnen bei einem Lieferstopp mit größeren Schäden, als von vielen anderen Kollegen angenommen. Im schlimmsten Szenario ergebe sich für das Jahr 2022 ein "Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um mehr als 6 Prozent", hieß es in einer Sonderanalyse der Stiftung. Das wäre ein größerer Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Leistung als im Corona-Krisenjahr 2020.
Wie sich die deutsche Wirtschaft im Zuge dieser Krise verändern wird.
Der Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, Christian Sewing, sagte am Montag, im Falle eines Energie-Embargos sei die Wahrscheinlichkeit hoch, "dass die deutsche Wirtschaft und wahrscheinlich auch die europäische Wirtschaft in eine Rezession verfällt mit langfristigen Folgen". Eine empfindliche Eintrübung wäre nach seiner Einschätzung kaum zu vermeiden.
Die "Wirtschaftsweise" Veronika Grimm glaubt hingegen, dass ein Embargo ein probates Mittel sein könnte, um Sicherheit in Europa herzustellen und zu stabilisieren - auch wenn dies einen ökonomischen Einbruch bedeute.
Wie viel Erdgas enthalten die deutschen Speicher aktuell?
Schon vor Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine waren die Füllstände hierzulande deutlich niedriger als in den Vorjahren. Den letzten aktuellen Gesamtwert für Deutschland gab die Datenbank des Netzwerks Gas Infrastructure Europe am 2. April mit knapp 26,5 Prozent an.
Zudem wird täglich mehr Energie entnommen, als neu eingespeichert wird. Auffällig dabei: Für die bisher zu Gazprom gehörenden Anlagen werden noch weit geringere Füllstände als im Bundesschnitt gemeldet. So war der größte deutsche Speicher im niedersächsischen Rehden den Angaben zufolge am ersten April-Wochenende mit nur 0,5 Prozent Auslastung fast leer. Der Speicher im ostfriesischen Jemgum war zu 15,8 Prozent gefüllt.
Kann eine höhere Eigenförderung von Gas die Lage entspannen?
Jahrelang war die Eigenförderung der Bundesrepublik zurückgegangen - auch weil konventionelle Lagerstätten zusehends erschöpft sind und es gleichzeitig Widerstand gegen die alternative, aber umstrittene Fracking-Methode gab.
Heimisches Gas deckt den Verbrauch bestenfalls zu etwa 5 Prozent ab.
Der Chef des Branchenverbands BVEG, Ludwig Möhring, fordert, dies zumindest als zusätzliche Stütze zu sehen: "Unser Ziel ist es, die Produktion auf dem aktuellen Niveau zu halten und idealerweise sogar leicht auszubauen. Dieser Wert an Versorgungssicherheit muss erkannt und gehoben werden."
Was hat Deutschland bisher getan, um die Abhängigkeit zu reduzieren?
Die Bundesregierung hat per Anordnung die Aufsicht über bislang von Russland geführte Teile der deutschen Gasversorgung übernommen.
Wirtschaftsminister Habeck setzte die Bundesnetzagentur vorübergehend als Treuhänderin für die deutsche Tochter des russischen Staatskonzerns Gazprom ein. Habeck begründete dies mit unklaren Rechtsverhältnissen und einem Verstoß gegen Meldevorschriften. Ziel sei es, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gazprom ist nach wie vor der größte Gaslieferant Deutschlands.
- Wie Windkraft an Land ausgebaut werden soll
Der Bund will den Weg frei machen für mehr Windräder an Land. Nach jahrelangem Streit einigten sich Umwelt- und Wirtschaftsministerium auf einen naturverträglichen Ausbau.
Zuvor war der Wirtschaftsminister in Norwegen und Katar unterwegs, um Verträge für zusätzliches oder verflüssigtes Erdgas (LNG) auszuloten. Auch mit Kanada sollen Gespräche laufen.
LNG ist wegen der CO2-Last durch Transport und Verbrennung klimapolitisch umstritten, gilt wegen des Zeitdrucks beim Verzicht auf russisches Pipeline-Gas aber als wichtige Alternative. In Wilhelmshaven, Stade und Brunsbüttel sollen möglichst rasch Import-Terminals für den per Schiff angelieferten Rohstoff entstehen.
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- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Russlands Angriff auf die Ukraine dauert an. Es gibt Sanktionen gegen Moskau, Waffen für Kiew. Aktuelle News und Hintergründe zum Krieg im Blog.