Trifft die Krise den Osten härter?

    Das sagen Ökonomen und Politiker:Trifft die Krise den Osten härter?

    09.10.2022 | 09:35
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    Teure Energie, steigende Preise: Vor allem im Osten Deutschlands gehen Menschen dagegen auf die Straße. Aber sind sie wirklich stärker betroffen? Nicht unbedingt, sagen Ökomomen.

    Teilnehmer einer Demonstration gegen die Energiepolitik der Bundesregierung und gegen Coronamaßnahmen laufen am Abend durch die Innenstadt von Gera, Thüringen, Deutschland.
    Demonstration in Gera
    Quelle: dpa/ Bodo Schackow

    Die allgemeine Krisenstimmung dominiert im Osten noch mehr als im Westen. Tausende protestieren jede Woche montags in Schwerin oder Plauen, Gera oder Cottbus. Für Politiker von rechts bis links scheint ebenfalls klar: Die Krise trifft den Osten härter.
    Zu Unrecht, sagt Ökonom Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

    Rein ökonomisch kann man wirklich nicht sagen, dass der Osten dramatisch viel stärker betroffen ist von den Russland-Sanktionen oder von den Gaspreisen.

    Oliver Holtemöller, IWH

    Und auch Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht das so: "Die ökonomischen Fakten sprechen eigentlich gegen eine stärkere Betroffenheit." Die Sorgen im Osten finden beide Forscher trotzdem verständlich. Die Argumente:

    Konjunktur läuft im Osten stabiler

    Holtemöllers IWH-Institut schloss Ende September aus der Gemeinschaftsdiagnose führender Wirtschaftsforscher, dass die Konjunktur in den östlichen Bundesländern sogar etwas stabiler läuft als im Westen. Die ostdeutsche Produktion soll demnach dieses Jahr um 1,5 Prozent wachsen und somit etwas stärker als in Deutschland insgesamt. Im nächsten Jahr soll der erwartete Rückgang der Wirtschaftsleistung mit 0,1 Prozent im Osten schwächer ausfallen als bundesweit (minus 0,4 Prozent).
    DIW-Experte Gornig erläutert das so: "Anders als in der Corona-Krise ist jetzt vor allem die energieintensive Industrie berührt, und die ist vor allem im Westen stark vertreten. Im Osten ist die Wirtschaft tendenziell eher auf Dienstleistungen ausgerichtet, und das wirkt in der Krise dämpfend."

    Einkommen und Rücklagen im Osten sind geringer

    In der Politik sieht man das anders. "Die aktuelle Preisentwicklung, nicht nur für Energie, ist für die Menschen in Ostdeutschland besonders bedrohlich", sagt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD). Unionsfraktionsvize Sepp Müller stimmt zu:

    Die aktuellen Herausforderungen treffen den Osten mehr.

    Sepp Müller, CDU

    Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch nennt vier Gründe dafür: "Löhne und Alterseinkommen sind im Osten circa 20 Prozent niedriger", sagt er. Energiepreise seien durch höhere Netzentgelte vielfach teurer. Weil viele Menschen auf dem Land wohnen, schlügen Spritpreise stärker zu Buche. Und Betriebe im Osten hätten oft weniger Rücklagen und Eigenkapital. Auch private Vermögen seien geringer, ergänzt CDU-Politiker Müller.
    Dass die finanzielle Decke im Osten bei vielen dünner ist, räumen auch Ökonomen ein. Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln fasst es so zusammen: "Auch wenn die Konjunktur im Osten stabiler läuft, kann die Bevölkerung dort stärker betroffen sein, weil die Einkommen geringer sind."

    Osten abhängiger von russischem Gas und Öl

    Der Osten sei auch traditionell abhängiger von russischem Gas und Öl, sagt CDU-Politiker Müller. Nord Stream endet in Mecklenburg-Vorpommern, die "Druschba"-Leitung führt russisches Öl nach Leuna und Schwedt. Vor allem für die PCK-Raffinerie in Schwedt gebe es noch keinen vollen Ersatz für die russischen Ölmengen, die spätestens 2023 wegfallen. Linken-Politiker Gregor Gysi warnte vor Jobverlusten, Versorgungsengpässen und regional höheren Preisen.

    Ostbeauftragter Schneider im ZDF
    :Energieversorgung mit "normalen Preisen"

    Der Ostbeauftragte Schneider lehnt Sonderregelungen für Schwedt und Leuna weiterhin ab. Das Öl-Embargo sei keine westdeutsche, sondern eine deutsche Entscheidung, sagte er im ZDF.
    Schneider: „Vorurteile abstreifen"
    Interview

    Aber die Folgen scheinen beherrschbar

    Die Wirtschaftsforscher relativieren das. Woher bisher Gas oder Öl gekommen seien, spiele kaum eine Rolle, "solange es funktionierende Netze gibt, über die alle Regionen versorgt werden können", sagt DIW-Experte Gornig. Für Schwedt habe die Bundesregierung umfassende Beschäftigungs- und Einkommensgarantien gegeben. Gornig schließt kurze Ausschläge im Preis nicht aus, aber langfristig höhere Spritpreise im Osten seien unwahrscheinlich.

    Krise ist überall

    Klar ist: Auch die Wirtschaftsforscher sehen eine tiefe Energiekrise und die Gefahr einer Gasmangellage - nur eben aus makroökonomischer Sicht in Ost und West gleichermaßen. Beide erkennen aber an, dass Krisen bei Ostdeutschen böse Erinnerungen an wirtschaftliche Brüche und Massenarbeitslosigkeit wecken. "Von der faktischen Lage sind die Menschen im Osten nicht stärker betroffen, aber das sagt natürlich nichts über deren Empfindungen aus", sagt Holtemöller.

    Energiewende ist weiter im Osten

    Andererseits ist Ostdeutschland auch näher an einer Lösung - die Energiewende ist vielerorts weiter. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg könnten sich nach Angaben der beiden Landesregierungen bereits heute rechnerisch zu 100 Prozent mit Strom aus erneuerbaren Energien versorgen, auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt liegen die Anteile weit über dem Bundesdurchschnitt.
    Ein kleines Dorf in Brandenburg hat bei der Energiewende die Nase weit vorn: Feldheim ist unabhängig von fossilen Brennstoffen und versorgt sich komplett selbst mit Strom.19.09.2022 | 1:20 min
    Die Krise könne dazu beitragen, dass der Ausbau noch attraktiver werde, sagt DIW-Ökonom Gornig. "Und da hat Ostdeutschland großes Potenzial, unter anderem, weil die Bevölkerungsdichte geringer ist."
    Quelle: Verena Schmitt-Roschmann, dpa

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