Energiekrise:Unsichere Zeiten für Frankreichs Atomstrom
von Luis Jachmann
21.07.2022 | 08:40
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Jedes zweite Kernkraftwerk in der EU steht in Frankreich. Doch nur die Hälfte dort liefert aktuell Strom. Die Gründe sind vielschichtig. Fachleute warnen vor Engpässen im Winter.
Auf der Homepage des französischen Netzbetreibers RTE zeigt ein Balkendiagramm in leuchtenden Farben den Anteil der einzelnen Energiequellen am Strommix. Der gelbe Balken hat seit einigen Tagen an Strahlkraft verloren: Die Atomenergie liegt deutlich unter dem Normalniveau von 70 Prozent. 29 der insgesamt 56 Atommeiler in Frankreich produzieren aktuell keinen Strom. Ein beachtlicher Wert für ein Land, das wie kaum ein anderes in Europa von der Kernenergie abhängig ist.
Rekordhitze bremst Atommeiler
Die extremen Temperaturen in dieser Woche steuern ihren Beitrag zu den zahlreichen AKW-Ausfällen bei. Denn das Kühlwasser, das die Kernkraftwerke in die Flüsse ableiten, darf eine bestimmte Temperatur laut Gesetz nicht überschreiten. Genau das ist an vielen Standorten bei teils über 40 Grad aber nicht mehr gegeben. Ein Dutzend Meiler wurde abgeschaltet. Nur dank einer Ausnahmeregelung dürfen vier Kraftwerke vorübergehend weiterhin Strom erzeugen - im Minimalbetrieb.
Manon Besnard vom Energieinstitut Negawatt fordert vor dem Hintergrund des Klimawandels eine präventive Energiepolitik:
Wir sehen gerade, dass im Sommer Reaktoren vom Netz gehen müssen. Wir können nicht vorhersagen, wann es dazu genau kommt. Sicher ist aber, dass sich diese Probleme häufen werden.
Manon Besnard, Energieinstitut Negawatt
Frankreichs Meiler auf dem Prüfstand
Die Hitze ist nicht das einzige Problem für Frankreichs Atomkraftwerke. Viele Reaktoren sind in die Jahre gekommen, werden vom Energiekonzern EDF generalüberholt.
Das AKW Gravelines in Nordfrankreich etwa wird sechs Monate lang abgeschaltet. Bei der Inspektion haben die Ingenieure massive Korrosionsschäden festgestellt. "Wir müssen viele Teile des Metallmantels ersetzen. Wir sollten nicht zu viel Risiko gehen", sagt Jean-Marc van Aldewereld vom AKW Gravelines.
Erst nach der Instandsetzung könne die Sicherheit gewährleistet werden und der Reaktor zehn weitere Jahre am Netz bleiben. "Wegen der Pandemie konnten viele Reaktoren nicht gewartet werden. Das passiert alles jetzt und sorgt für so viele Ausfälle", bilanziert Forscherin Manon Besnard.
Investitionen in neue Reaktoren
Für den Energiekonzern EDF sind die Inspektionen nicht die einzige Baustelle. Der Betreiber ist hoch verschuldet. Deswegen soll der französische Staat, aktuell mit 84 Prozent Hauptanteilseigner, EDF ganz übernehmen - auch um mindestens sechs Meiler der neuesten Generation bauen zu können. Kostenpunkt: über 60 Milliarden Euro.
In Zeiten, in denen Europas Energiesicherheit auf dem Spiel stehe, "ist Atomenergie eine nachhaltige Lösung bei uns und in anderen europäischen Ländern", erklärte Frankreichs Präsident Macron kürzlich am Nationalfeiertag.
Wie langwierig der Neubau werden kann, zeigt das Beispiel Flamanville am Ärmelkanal. Mit zehn Jahren Verzögerung und deutlich teurer als geplant wird das neue AKW voraussichtlich Ende 2023 fertiggestellt.
Der Ausbau des Atomparks lässt auf sich warten und das bestehende Netz könnte noch stärker belastet werden. Forscherin Besnard warnt:
Um den 1. Dezember herum werden zehn bis 15 zusätzliche Reaktoren pausieren müssen. Wenn die bereits laufenden Wartungsarbeiten sich hinziehen sollten, könnten wir im Winter Probleme bei der Energieverteilung bekommen.
Manon Besnard, Energie-Expertin
Macron setzt darauf, dass es dazu nicht kommt und nimmt notfalls Energieimporte aus dem EU-Ausland in Kauf. Nach Angaben des deutschen Bundesverbandes Erneuerbare Energie hat Deutschland bereits im Frühjahr Strom nach Frankreich exportiert. Eine Wiederholung im Herbst scheint nicht ausgeschlossen und könnte die Energiepreise in Europa weiter in die Höhe treiben.
Luis Jachmann ist Reporter im ZDF-Studio Paris.
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