Deutschland könnte einen sofortigen Stopp russischer Gaslieferungen auffangen und durch den Winter kommen. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universitäten Bonn und Köln.
Russland hat die Liefermenge an Erdgas nach Deutschland erheblich reduziert, die drohende Gaskrise verunsichert die Bevölkerung und die Industrie. Tatsächlich sind die Probleme, die uns im Winter erwarten, sehr real:
- Gas ist viel teurer geworden. Zusätzlich wird die staatliche Gas-Umlage die Preise in die Höhe treiben. Haushalte, die mit Gas heizen, müssen schon bald sehr viel mehr bezahlen.
- Dazu kommt die Sorge, dass das Gas nicht über den Winter reichen könnte, gerade für die Industrie wäre das ein bedrohliches Szenario, bei dem Arbeitsplätze in Gefahr sind.
- Politik und Forschung fürchten zudem, dass rechte Extremisten die Krise und die Inflation für ihre Zwecke ausschlachten könnten - und warnen vor neuen Protesten im Winter.
Blicken wir also auf die Lage im Gas-Sektor und welcher Verlauf der Krise realistisch ist:
Wie ist der Stand in den Gasspeichern?
Die Bundesnetzagentur hat verschiedene Szenarien berechnet, die die Gas-Versorgungslage in Deutschland in Abhängigkeit zu den russischen Liefermengen betrachten. Derzeit bewegt sich die Entwicklung trotz der niedrigeren Liefermenge eher entlang der optimistischen Annahmen.
Aktuell sind die deutschen Gasspeicher zu 70,8 Prozent gefüllt. Täglich kommen etwa 0,4 Prozentpunkte dazu. Bis zum 1. Oktober sollen die Speicher zu 85 Prozent gefüllt sein, bis zum 1. November zu 95 Prozent.
Zum Vergleich: Der Höchststand der Speichermenge im letzten Jahr war 72,4 Prozent am 1. November 2021. 2019 lag der Füllstand an diesem Tag bei 99,3 Prozent.
Welche Rolle spielen die Gasspeicher im Winter?
Die Wichtigkeit der Gasspeicher wird aktuell etwas überbetont: Die deutschen Speicher haben ein Fassungsvermögen von 250 Terawattstunden (TWh).
Selbst wenn die Speicher im Winter zu 100 Prozent gefüllt sein sollten, decken sie nur den Verbrauch von etwa zwei Wintermonaten ab. Es ist also entscheidend, dass auch im Winter noch Gaslieferungen in Deutschland ankommen.
- Wie es um unsere Gasversorgung steht
Wie viel Gas verbrauchen Haushalte und Industrie? Wie voll sind die Gasspeicher? Wie viel Gas bekommt Deutschland? Grafiken zur Gasversorgung in Deutschland.
Wie kommen wir gut durch den Winter?
Dieser Frage sind Wissenschaftler*innen der Universitäten Köln und Bonn nachgegangen. Und ziehen in ihrer Studie ein zuversichtliches Fazit:
Um gut durch den Winter zu kommen, müsse Deutschland seinen Gasverbrauch bis zum Ende der kommenden Heizperiode um 210 TWh oder 25 Prozent reduzieren - das sind von August bis Ende April durchschnittlich 23 TWh pro Monat. Möglich sei das, so die Forscher*innen, wenn an drei Stellschrauben gedreht werde:
- Der Verbrauch von Gas zur Stromerzeugung muss sinken.
- Der Verbrauch zur Beheizung von Gebäuden muss reduziert werden.
- Und die Industrie muss ihren Verbrauch senken bzw. Gas durch andere Energieträger ersetzen.
Ebenso eingerechnet werden dabei Pipeline-Importe aus anderen Ländern und zwei neue Flüssiggasterminals, die im Winter in Betrieb genommen werden sollen.
Was muss dafür genau passieren?
Elektrizitätserzeugung
Der Gasverbrauch bei der Stromproduktion lässt sich nur zum Teil einsparen. Gaskraftwerke werden mitunter auch genutzt, um als Nebenprodukt Fernwärme für Haushalte zu erzeugen, eine sogenannte Kraft-Wärme-Kopplung. Auch müssen Gaskraftwerke kurzfristige Engpässe ausgleichen.
Trotzdem sehen die Studienautor*innen ein Einsparungspotential von 6 bis 7 TWh pro Monat, wenn Strom zum Beispiel übergangsweise wieder aus Kohle erzeugt wird. Eine längere Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke wurde in der Studie nicht eingerechnet, diese sei jedoch zu prüfen.
Haushalte und Gewerbe
Im Winter wird ein Großteil des Gases für die Beheizung von Gebäuden verbraucht. Die Studie sieht ein Einsparpotential von rund 15 Prozent in diesem Bereich. Das entspräche einer Absenkung der Raumtemperatur von 2,5 Grad Celsius. So sei es möglich, auch hier 6 bis 7 TWh pro Monat zu sparen.
Zusätzlich könnten auch Einzelhandel, Unternehmen und der öffentliche Dienst einen Beitrag leisten, etwa durch mehr Homeoffice und verkürzte Ladenöffnungszeiten.
Industrie
Die Industrie muss die größte Menge an Gas einsparen oder durch andere Energieträger ersetzen. 10 TWh pro Monat bzw. 26 Prozent müssen reduziert werden. Doch auch hier zeigen sich die Studienautor*innen optimistisch:
So könne in vielen Bereichen die Produktion mit anderen Energieträgern aufrechterhalten werden, wenn Gas etwa durch Heizöl ersetzt werde. Bei BASF wurden demnach 15 Prozent des für die Strom- und Dampferzeugung benötigten Erdgases ersetzt. Mercedes-Benz sieht sogar ein Reduktionspotential von 50 Prozent und die Brauerei Veltins gab an, "innerhalb weniger Stunden im Kesselhaus von Gas- auf Heizölbefeuerung umstellen" zu können.
Zusätzlich könnten besonders energieintensive Arbeitsschritte und Vorprodukte von außerhalb der EU zugekauft werden, um heimische Energiereserven zu schonen. Dadurch frei werdende Arbeitskräfte könnten über Kurzarbeit aufgefangen werden.
Gibt es pessimistischere Stimmen?
Kritischer sehen die Lage die Experten der Bundesnetzagentur: "Wenn wir nicht kräftig sparen und kein zusätzliches Gas bekommen, haben wir ein Problem", sagte Behördenchef Klaus Müller der "Welt am Sonntag". Auch dort geht man davon aus, dass Verbraucher mindestens 20 Prozent Gas einsparen müssen.
Fazit: Die Gaskrise ist real und der Winter wird teuer. Das Horrorszenario vom Zusammenbruch der deutschen Industrie und kalten Wohnungen kann - laut der Studie aus Köln und Bonn - aber voraussichtlich abgewendet werden, selbst bei einem sofortigen Gas-Lieferstopp aus Russland. Wichtig ist dabei jedoch, dass die Einsparmaßnahmen in allen Sektoren weiter durchgehalten werden.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:
- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.