Die Wirtschaft in Deutschland boomte und brauchte dringend Arbeitskräfte - und fand diese in Italien. Für viele wurde das Land der provisorischen Arbeitsaufnahme zur neuen Heimat.
Mit dieser prägnanten Formulierung brachte der Schriftsteller Max Frisch auf den Punkt, was vor 65 Jahren begann: Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollten sogenannte Gastarbeiter aus Italien das deutsche Wirtschaftswunder auf Touren halten.
Eine Chronolgie:
- 20. Dezember 1955: Deutschland und Italien unterzeichnen in Rom ein Abkommen, das als Muster für alle Anwerbeverträge der Bundesrepublik dienen sollte
- 5. Januar 1956: Die ersten 50 italienischen Gastarbeiter kommen im niederrheinischen Siersdorf an
- April 1956: Das erste größere Kontingent von 1.389 Saisonarbeitern erreicht Deutschland
- Ende 1956: Insgesamt 10.240 Arbeiter aus dem Veneto, Apulien und Kampanien arbeiten in Niedersachsen, NRW und Baden-Württemberg im Agrarsektor und Baugewerbe
- 1960: Verträge zwischen der Bundesrepublik und Spanien sowie Griechenland sorgen für einen Zuwachs an Gastarbeitern
- Ab 1961: Abkommen mit den islamischen Ländern Türkei (1961), Marokko (1963) und Tunesien (1965) folgen
- 1964: Die Bundesrepublik empfängt ihren insgesamt millionsten Arbeitsmigranten am Kölner Hauptbahnhof mit einem neuen Motorrad als Geschenk
- 1973: Ölkrise und Wirtschaftsrezession sorgen für einen Anwerbestopp
Doch die Tradition italienischer Wanderarbeiter reicht weiter zurück:
- Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die Zahl der Arbeitskräfte aus dem Süden stetig an
- 1937: Die Nazis und das faschistische Italien schließen ein erstes offizielles Anwerbeabkommen
- 1938: Italienische "Fremdarbeiter" helfen beim Bau des Volkswagen-Werks in Wolfsburg
- 1943: Nach dem Wechsel Italiens auf die Seite der Alliierten, ändert sich die Situation dramatisch. 100.000 Zivilarbeiter und 600.000 nach Deutschland transportierte italienische Kriegsgefangene werden zu Zwangsarbeitern
1956 bedeutete einen Neuanfang: Während deutsche Touristen sich in Richtung Bella Italia aufmachten, warben deutsche Firmen jenseits der Alpen für eine "Vita nuova" - ein neues Leben in der Bundesrepublik.
Mitte der 50er Jahre kommen die ersten sogenannten „Gastarbeiter“ nach West-Deutschland.
Die Schattenseiten der "Deutschen vita"
Doch die "Deutsche vita" war alles andere als eine "dolce vita": Behörden und Arbeitgeber machten deutlich, dass die Gastarbeiter sich nicht langfristig einrichten, sondern schon bald wieder zurückkehren sollten. Kranken- und Arbeitslosenkassen sollten nicht dauerhaft belastet werden.
Auch die deutschen Arbeitnehmer waren über die Konkurrenz ausländischer Kollegen nicht begeistert. "Kein Zutritt für Italiener" stand an mancher Gastwirtschaft. Für viele Gastarbeiter war das eine bittere Erfahrung: karge Unterkünfte, harte Arbeit im Baugewerbe, im Bergbau oder der Schwerindustrie, scheußliches Wetter. Den größten Teil des Geldes überwiesen sie an ihre Familien.
Wirtschaftsgemeinschaft ermöglicht weiterhin Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt
Quelle: dpa
Ölkrise und Wirtschaftsrezession sorgen 1973 für einen Anwerbestopp. Für italienische Arbeitssuchende hatte das allerdings keine unmittelbaren Folgen: Als Angehörige eines EWG-Staates hatten sie leichteren Zugang zum westdeutschen Arbeitsmarkt.
Für viele Gastarbeiter wurde aus der provisorischen Arbeitsaufnahme ein Daueraufenthalt. Mit all den Problemen, insbesondere für Muslime. Für die katholischen Italiener waren die Hürden nicht ganz so hoch: Die Kirche gründete bundesweit karitative Einrichtungen und muttersprachliche Kirchengemeinden für die Zuwanderer aus dem Süden.
Heute um die 645.000 Italiener in Deutschland
Mittlerweile leben laut Statistischem Bundesamt rund 645.000 Italiener in Deutschland. Sie stellen nach Türken, Polen, Syriern und Rumänen die fünftgrößte Gruppe.
Stück für Stück entdeckten die Deutschen auch die italienische Lebensart: Ob Spaghetti, Grappa, Pasta oder Pizzerien und Eisdielen. Die "dolce vita" ist heute zum Teil der "Deutschen vita" geworden.