Weniger Kirchenmitglieder: Was unsere Gesellschaft zusammenhält

Mitgliederschwund in den Kirchen:Was unsere Gesellschaft zusammenhält

von Christiana Ennemoser
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Millionen Menschen trauern um Papst Franziskus. Doch weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland sind noch Mitglied in einer Kirche. Wie verändert das die Gesellschaft?

Brandenburg, Seelow: In der Kirche von Seelow unterhält sich eine Frau der Kirchengemeinde mit einem Geflüchteten aus Afghanistan.
Mitgliederschwund in den christlichen Kirchen (Symbolbild)
Quelle: dpa

Auch in Deutschland ist die Trauer um Papst Franziskus groß, am Mittwoch startet in Hannover der evangelische Kirchentag. Die christlichen Kirchen füllen derzeit deutsche Medien, doch ihre Bedeutung in der Bundesrepublik scheint zusehends zu schwinden.
Die jüngsten Zahlen von katholischer Kirche und evangelischer Kirche besagen, dass weniger als 50 Prozent der Deutschen noch Mitglied bei ihnen sind. Könnte das gravierenden Einfluss auf den Zusammenhalt der Gesellschaft haben?
Ein Gläubiger hält ein Porträt des verstorbenen Papstes Franziskus in der Basilika San José de Flores, wo er als Jugendlicher betete, nachdem der Vatikan seinen Tod in Buenos Aires, Argentinien, bekannt gegeben hatte.
Papst Franziskus war das Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholiken weltweit. Auch in Deutschland trauern Gläubige um das verstorbene Kirchenoberhaupt.21.04.2025 | 1:32 min

Religion nicht notwendig für Zusammenhalt

Die Religionssoziologie habe die Annahme, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft auf Religion und Kirche beruhe, seit langem aufgegeben, erklärt Detlef Pollack vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Universität Münster. "Die akzeptierten Werte unserer Gesellschaft hängen nicht mehr davon ab, ob die Kirche sie vertritt."

Gleichwohl sind viele unserer Werte christlich beeinflusst, etwa solche Werte wie Solidarität, Fairness, Empathie und Vertrauen.

Detlef Pollack, Institut für Soziologie, Universität Münster

"Früher nannte man sie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Mitleid und Glauben," so Pollack weiter. Solche Werte würden aber natürlich auch durch andere soziale Strukturen befördert, etwa durch die Familie.
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Auch sie sei eine moralische Instanz, und das unabhängig von Religion. Denn "das Leben in einer Familie ist ebenfalls angewiesen auf Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Rücksichtnahme und Solidarität."

Wirtschaft und Sozialstaat wichtiger Kitt für Gesellschaft

Neben der Familie gibt es, laut Pollack, weitere wichtige Faktoren für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ein sehr wichtiger, so der Religionssoziologe, sei die Wirtschaft:

Geht es der Wirtschaft gut, steigt das zwischenmenschliche Vertrauen, das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Zustimmung zur Demokratie.

Detlef Pollack, Exzellenzcluster "Religion und Politik", Universität Münster

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Als weitere essenzielle Fundamente für den Zusammenhalt in der Gesellschaft nennt Pollack einen funktionierenden Rechtsstaat und die Teilhabe an politischen Prozessen. Religion sei zwar auch ein tragender Baustein, aber eben nicht der einzige.
Der Sozialstaat trage ebenfalls zum gesellschaftlichen Frieden bei - ein Ausdruck für die Rücksichtnahme auf die Schwächeren. Auf den ersten Blick scheint das derzeit wenig der Fall zu sein in Anbetracht der Diskussionen um Mindestlohn, Bürgergeld und weiterer Sozialleistungen. Aber:

Deutschland gibt mehr als eine Billion Euro für soziale Leistungen aus. Das sind über 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Unser Sozialstaat ist ein effektives Umverteilungssystem.

Detlef Pollack, Religionssoziologe

"ZDF.reportage: Alltag Kinderarmut - Kein Geld - keine Chance?": Ein Junge mit dem Rücken zur Kamera, mittig im Bild, auf einem Klettergerüst. Er trägt eine rote Kapuze und helle Shorts. Im Hintergrund sieht man einen Plattenbau.
Wie viel Sozialstaat brauchen wir? Er ist ein Kernelement unserer Gesellschaft. Doch über seine Ausgestaltung haben die einzelnen Parteien unterschiedliche Vorstellungen.02.06.2024 | 3:48 min

Die Hälfte in Deutschland ist gläubig

Doch auch wenn die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, hat christlicher Glaube und Glaube an sich nach wie vor einen hohen Stellenwert hierzulande. Laut Allbus-Studie sagen 50 Prozent aus, an Gott oder ein höheres Wesen zu glauben.
Und sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung bekennt sich zum Islam. Bei Musliminnen und Muslimen spiele die religiöse Bindung eine größere Rolle als in der deutschen Gesamtbevölkerung, so Pollack.
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Das habe unter anderem damit zu tun, dass die Menschen in den muslimischen Gemeinden Anerkennung fänden, die sie ansonsten manchmal vermissten, aber auch Solidarität und Hilfe.

Religion als Trägerin von Gemeinschaft und Solidarität

Auch in Regionen, in denen schon seit Jahrzehnten religiöse Prägung kaum verwurzelt ist, sind Gemeinschaft und Solidarität relevante Werte. Das erlebt Pfarrer Stefan Körner täglich bei seiner Arbeit in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Gera:
Ellen und Steffi Radtke posieren für ein Handy-Selfie in der Kirche.
Drei Pastorinnen und Pastoren wollen den Mitgliederschwund ihrer Kirche nicht hinnehmen. Sie greifen zu ungewöhnlichen Mitteln.11.04.2023 | 28:56 min
So seien sie vor Ort als Christen "eine absolute Minderheit, ein Player von ganz ganz vielen" und dennoch für die Menschen wichtig - allerdings nicht in der "Machtposition, die Kirche irgendwann mal hatte, die der Kirche aber nicht gut zu Gesicht stand."

Kirche war schon immer dafür gedacht, bei den Menschen zu sein. Das geht auch ganz gut, wenn man die Hände ein bisschen leerer hat.

Stefan Körner, Pfarrer in Gera

Glaube als Kitt im Alltag

Menschen wendeten sich inzwischen ganz bewusst an die Kirche vor Ort, so Körner. "Wir haben derzeit mehr Erwachsenentaufen als Kindertaufen." Und diese neuen Gemeindemitglieder seien sehr engagiert und innerlich mit dem Glauben hoch verbunden.
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Die Bedeutsamkeit von Kirche für Menschen, die zuvor nichts mit ihr zu tun hatten, sieht auch Religionssoziologe Pollack. Oft sei Religion in der Lage, dem Menschen seine Endlichkeit und Verletzlichkeit bewusst zu machen und ihm zugleich Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln. Deshalb fänden "viele Menschen in ihren religiösen Praktiken und Überzeugungen Ermutigung und Kraft."

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