Das Thema Sicherheit beschränkt sich in Zeiten des Krieges nicht mehr nur auf Wehrfähigkeit und Verteidigung. Fragen zur Versorgungssicherheit bei Energie, Krisenprävention und Zivilschutz entwickeln sich zu einer Debatte über Defizite und Versäumnisse der vergangenen Jahre. Das „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro, das Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor einer Woche angekündigt hatte, weckt inzwischen Begehrlichkeiten, die über die Bundeswehr hinausgehen. Außen- und im Innenministerium hoffen auf mehr Geld für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz. Bei Teilen der Grünen wird das Sondervermögen zudem als Chance gesehen, mehr Geld auch für Klimaschutz und Energiewende zu mobilisieren, da nun die Abhängigkeiten in der Energieversorgung als Frage der nationalen Sicherheit bewertet würden.
Die CDU fordert angesichts des Ukraine-Kriegs von der Bundesregierung Notfallpläne zur Energieversorgung Deutschlands. „Wir wissen, dass wir uns in den letzten Jahren zu sehr in die Abhängigkeit von Russland begeben haben“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz nach einer Klausurtagung des Parteivorstands. Er warnte davor, dass Lieferungen aus Russland reduziert oder unterbrochen werden könnten. Merz sagte, dass es ein Fehler gewesen sei, 2011 aus der Kernenergie auszusteigen, – „jedenfalls in dieser Reihenfolge“ – aber es sei nicht rückgängig zu machen. Ob einige Atomkraftwerke weiter betrieben werden könnten, sei offen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verspricht sich von einer etwaigen Neuorientierung bei der Atomkraft keine baldige Entlastung bei der Energieversorgung. Naheliegender sei ein Dreischritt bei anderen Energieformen. „Erstens müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen, zweitens neue Importquellen für Gas, Kohle, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe erschließen und drittens die Nutzung bestehender Kohle-Kapazitäten bewerten“, sagte Lindner der „Rheinischen Post“. Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) hatte am Mittwoch nicht ausgeschlossen, dass Kohlekraftwerke in Deutschland länger laufen müssen, um das Land energiepolitisch unabhängiger von Russland zu machen. Die Versorgungssicherheit müsse gewährleistet sein. Dass Habeck die Priorität der Versorgungssicherheit unterstrichen habe, sei „für einen Grünen bemerkenswert“, sagte Lindner. Eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten halte er selbst für schwierig. „Eine Neubewertung würde zur Folge haben, dass neuer Brennstoff eingekauft und neue Genehmigungen erteilt werden müssten. Mit einem Beitrag zur Stärkung unserer Energieversorgung wäre zumindest nicht für den kommenden Winter zu rechnen.“
Bei der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) kann man diese Vorbehalte nicht nachvollziehen. Eine Laufzeitverlängerung sei durchaus möglich, „wenn dies politisch gewollt ist“, sagte der Technisch-Wissenschaftliche GRS-Geschäftsführer Uwe Stoll der „Welt am Sonntag“. „Die Kernkraftwerke müssen nach dem Atomgesetz alle Sicherheitsanforderungen bis zur letzten Minute erfüllen, sonst müssten von der Atomaufsicht entsprechende Maßnahmen oder die Stilllegung angeordnet werden.“ Er könne „Bedenken, das könnte einen Tag später plötzlich anders sein, nicht nachvollziehen“. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist gegen eine erneute Debatte über die Nutzung von Kernenergie. „Ich plädiere dafür, jetzt keine Grundsatzdiskussion über die Kernkraft anzufangen“, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm der „Welt am Sonntag“. Fragen wie die Entsorgung des Atommülls seien nach wie vor nicht gelöst. Daher sei es sinnvoller, den Kohleausstieg zu verschieben, um sich unabhängiger von russischem Gas zu machen.
Als Ersatz für russisches Gas ist der Import von Flüssigerdgas (LNG) denkbar, allerdings verfügt Deutschland über keine entsprechende Hafenanlage. Planungen für ein Flüssiggas-Terminal gibt es schon lange. Vor knapp dreieinhalb Jahren, im Dezember 2018, sagte der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU): „Eine größere Unabhängigkeit ist nur denkbar, wenn wir neben der langzeitigen Versorgung mit Gas auch eine LNG-Infrastruktur in Deutschland schaffen, das heißt die Möglichkeit schaffen, im Bedarfsfall Gas auch aus anderen Ländern in Form von Flüssiggas zu imporiertieren.“ Das sei ein Bereich, in dem es auch große Interessen der USA gebe, die mehr Flüssiggas nach Europa und Deutschland verkaufen wollten. „Wir in der Bundesregierung sind uns einig, dass wir eine LNG-Infrastruktur zeitnah schaffen“, versprach Altmaier damals. Tatsächlich ist man aber seitdem nur zäh vorangekommen. Jetzt, da ein Liefereinbruch aus Russland droht, soll auf einmal alles ganz schnell gehen. Am Freitag unterzeichneten Projektpartner ein „Memorandum of Understanding“ für ein LNG-Terminal im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel. Die Vereinbarung sieht vor, dass der Bund über die Förderbank KfW 50 Prozent hält, mit 40 Prozent beteiligt sich der niederländische Gasnetzbetreiber Gasunie, der dem niederländischen Staat gehört, die restlichen 10 Prozent hält der deutsche Energiekonzern RWE. Zunächst sei geplant, in Brunsbüttel jährlich acht Milliarden Kubikmeter LNG zu regasifizieren – also das verflüssigte und so per Schiff transportierbare Gas wieder gasförmig zu machen. Dadurch sei es möglich, „Erdgas für den deutschen Markt aus Regionen zu beziehen, die durch Gasleitungen nicht zu erreichen sind“, erklärte das Ministerium. Betreiberin der Anlage wird Gasunie. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte kürzlich geschätzt: „Alles in allem wird man davon ausgehen können, dass LNG bis zu zwei Drittel der derzeitigen Erdgasimporte aus Russland ersetzen könnte.“ Das Bundeswirtschaftsministerium nennt keinen konkreten Zeitrahmen für die Fertigstellung, verspricht aber, das Projekt „so zügig wie möglich umzusetzen“. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sagte am Samstag, er rechne mit einer Bauzeit von etwa drei Jahren. Sein Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP) hingegen schätzte die Bauphase auf vier bis fünf Jahre.
Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna
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