Nach dem Angriff auf die Ukraine haben inzwischen Tausende Russen ihr Heimatland verlassen, darunter viele Intellektuelle und Künstler. Sie gehen aus Protest gegen die russische Regierung oder weil sie keine Zukunft mehr für sich in Russland sehen. „Am meisten tut mir leid, mich von meinem früheren Leben trennen zu müssen“, sagt Liudmila Ulitzkaja. Die russische Schriftstellerin hat Russland eine Woche nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat, verlassen und lebt jetzt in Berlin. Ihre Bücher werden in Russland geliebt. Russlands Krieg gegen die Ukraine bezeichnet die Schriftstellerin als „Wahnsinn“ und „Verbrechen“.
Mit dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine haben viele berühmte Kulturschaffende Russland verlassen, darunter die Schauspielerin Chulpan Khamatova, die Primaballerina des Bolschoj-Theaters Olga Smirnova, der Popstar Alla Pugacheva zusammen mit ihrem Ehemann, dem Komiker Maxim Galkin, sowie der Rockstar Zemfira. Insgesamt sind es laut dem NGO-Projekt „OK Russians“ seit Kriegsbeginn mindestens 300.000 Menschen, die ihr Heimatland verlassen haben. Laut einer Umfrage der Organisation sind die Hauptgründe für eine Ausreise, dass die Menschen nicht in einem Land bleiben wollen, das Krieg gegen seinen Nachbar führt, oder weil sie Angst haben vor Repressalien oder weil sie keine Zukunft mehr für sich in Russland sehen.
Der Schriftsteller und Kardiologe Maxim Osipow zum Beispiel hat in der Stadt Tarusa gelebt, zweieinhalb Stunden von Moskau entfernt. Dort ging er nach Kriegsbeginn zusammen mit sechs anderen Menschen auf die Straße. Nun lebt Osipow in Berlin, geflüchtet. „Ich war immer dagegen, auszuwandern und dachte: Wenn sie dieses und jenes Gesetz verabschieden, muss ich ausreisen, und bin jedes Mal nicht gegangen.“ Er schildert, wie ihm die Luft zum Atmen genommen wurde als sich das Gerücht verbreitete, dass Russland unter Umständen noch das Kriegsrecht ausrufen könnte. Osipow wird nun erst einmal drei Monate am Wissenschaftskolleg zu Berlin verbringen.
Nicht nur Deutschland, insbesondere Berlin, auch Armenien, Georgien und die Türkei sind zu beliebten Zielen für geflüchtete Russen geworden. In der türkischen Metropole Istanbul und der armenischen Hauptstadt Eriwan unterstützt die russische Initiative „Die Arche“ die Ausgereisten bei der Ankunft. Man stelle vor allem Unterkünfte für Menschen bereit, die „aus Angst vor einer Verhaftung in Eile fliehen mussten“, sagt Eva Rapoport von der Organisation der Deutschen Presse-Agentur. Einige Exilanten hätten Russland auch wegen der schlechten wirtschaftlichen Aussichten angesichts der harten Sanktionen des Westens verlassen, sagt Rapoport. Junge Männer hätten zudem Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Vor allem gut ausgebildete Menschen seien unter den Neuankömmlingen. Das Nato-Land Türkei hält seinen Luftraum für russische Flieger im Gegensatz zu Europa offen und beteiligt sich nicht an Sanktionen. Russen können zudem ohne Visum einreisen, was das Land zu einem Drehkreuz macht. Ein Teil der Neuankömmlinge ließe sich nicht in der Türkei nieder, sondern reise weiter, so Rapoport.
In der Ex-Sowjetrepublik Armenien halten sich nach offiziellen Angaben mittlerweile 75.000 Menschen aus Russland auf – Experten gehen sogar von 100.000 aus. Hotels, Pensionen und Mietwohnungen in der Hauptstadt Eriwan sind voll belegt, wie ein dpa-Reporter vor Ort berichtete. Weil in Armenien auch Russisch gesprochen wird, gibt es für die Neuankömmlinge, darunter viele junge Familien, keine Sprachbarrieren. Auch in Georgien wird Russisch gesprochen. Bis Mitte März registrierten die Behörden dort mehr als 30.000 Einreisen aus dem Nachbarland.
Um die Flucht weiterer Landsleute zu verhindern und die Stimmung im Land zu kontrollieren, sind die staatlichen Medien in Russland bemüht, die Nachrichtenmeldungen über den Krieg, der nicht so genannt werden darf, zu filtern. Auch russische Diplomaten rund um die Welt benutzen Facebook, Twitter und andere Plattformen, um Schuldzuweisungen nach Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine abzuwehren, Fakten zu verdrehen und damit zugleich zu versuchen, die internationale Koalition zur Unterstützung der Ukraine zu untergraben. Technologie-Unternehmen haben Accounts aus ihren Empfehlungen und Suchergebnissen entfernt. Aber die Konten sind weiter aktiv, verbreiten Fehlinformationen und Propaganda in fast allen Ländern – zum Teil deshalb, weil ihr diplomatischer Status ihnen eine zusätzliche Schutzschicht in Sachen Content-Moderation gibt. „Ein totalitäres Regime erfordert eine Medienblase. Es erfordert Zensur daheim, und es erfordert, dass du selbst Nachrichten aussendest, für ein einheimisches und auch für ein ausländisches Publikum“, erklärt Nicholas Cull, ein Professor an der Universität von Südkalifornien, der die Schnittpunkte zwischen Diplomatie und Propaganda studiert.
Russische Behörden gehen mit Verhaftungen, Razzien und Geldstrafen gegen Journalisten vor, denen sie „falsche Informationen“ über den russischen Krieg in der Ukraine vorwerfen, erklärte die Organisation Reporter ohne Grenzen. „Sie betreiben eine regelrechte Hetzjagd, um die wenigen einheimischen Journalistinnen und Journalisten zum Schweigen zu bringen, die es überhaupt noch wagen, entgegen der vorherrschenden Propaganda über den von Russland in der Ukraine angezettelten Krieg zu berichten“, sagte Geschäftsführer Christian Mihr. Seit einer russischen Gesetzesänderungen im März kann jede Person zu bis zu 15 Jahren Haft verurteilt werden, die aus Sicht der russischen Regierung „falsche Informationen“ über die russischen Streitkräfte und Staatsorgane verbreitet. Viele unabhängige Medien haben daraufhin ihre Arbeit eingestellt.
Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna / DLF
Bildquelle: Imago
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