Julia Löwe (Alina Levshin) wurde 1980 geboren. Vermutlich irgendwann im August, doch so genau weiß man es nicht, denn als Säugling wurde sie von ihren Eltern bei einer Raststätte an der Schweizer Grenze ausgesetzt: Ohne Namen, ohne Wurzeln.
Aufgewachsen ist Julia in einem Waisenheim. Doch anstatt mit anderen Kindern zu spielen, verbrachte sie viel Zeit in der Natur. Sie begann früh damit, in einem kleinen Netz Schmetterlinge und Käfer zu sammeln und diese zu archivieren. Hier wurde ihr Interesse an der Biologie geweckt. Aus dem Insektensammeln wurde das Ausstopfen von Tieren. Ein Prozess, der Julia schon als junges Mädchen beibrachte, wie Lebewesen aufgebaut sind und was sich in ihrem Inneren befindet. Ein Interesse, das sie noch weit bringen würde.
Schon mit 16 Jahren macht Julia das Abitur und wurde wenig später zu einem begehrten Medizinstudienplatz in Heidelberg zugelassen. Es folgte die Promotion, eine 500 Seiten starke Arbeit, welche von Kollegen aus der Forschung mit Bewunderung betrachtet und mehrfach ausgezeichnet wurde. Durch ihre akademischen Leistungen standen Julia Löwe – jetzt Dr. Julia Löwe – alle Türen der Forschung und der Lehre offen. Doch sie entschied gegen diesen Lebenslauf, da sie auf den direkten Umgang mit biologischen Körpern nicht verzichten wollte. Stattdessen bewarb sie sich in der Gerichtsmedizin und arbeitet seither in der forensischen Pathologie in Berlin, wo sie durch ihre ungewöhnliche anthropologische Kenntnis unzählige Fälle löste und zahlreiche Staatsanwälte und LKA Kollegen sprachlos zurückließ.
Doch insgeheim gab es noch einen anderen Grund, warum Julia weder in die Lehre, noch in die Arbeit mit lebenden Patienten gehen wollte: Sie hat einfach kein Interesse an Menschen, die noch nicht verstorben sind. Das soziale Miteinander ist ihr als isolierter Eigenbrötler ein Rätsel. Warum Menschen sagen, was sie sagen. Warum sie miteinander so umgehen, wie sie es tun. Trotz all ihrer Intelligenz hat Julia ein Problem mit Empathie. Denn Impulsivität, Emotionalität, Wut und Liebe – sie durfte all dies niemals kennenlernen. Und so haben ihre Kollegen schon immer gerätselt, ob Dr. Julia Löwe vielleicht nicht sogar autistische Züge hat. Doch was interessiert sie das? Es sind doch bloß Menschen, die solche Bedenken mit ihr haben. Aber Knochen, Leichen, Organe und Gewebe – all das ist ihr vertraut, hierhin kann sie sich flüchten. Die Knochen sind ihr Leben.