Mit dem EM-Qualifikationsspiel gegen Nordirland am Dienstag geht für die deutsche Nationalmannschaft ein wechselhaftes Jahr zu Ende. Bundestrainer Joachim Löw ärgert sich vor allem über die Verletzungsmisere, die den Neuaufbau erschwert hat.
Das neueste Mannschaftsbild vom deutschen Nationalteam stammt aus der Villa Kennedy. Im Foyer der Fünf-Sterne-Herberge in Frankfurt-Sachenhausen ist die Nationalmannschaft vor dem abschließenden EM-Qualifikationsspiel gegen Nordirland (Dienstag, 20:45 Uhr) zusammengekommen, um vier Akteure im Wartestand zu begrüßen. Julian Draxler, Antonio Rüdiger, Thilo Kehrer und Kevin Trapp haben sich allesamt in Zivil zum Gruppenfoto dazugestellt. Ein Quartett, das nämlich aus den verschiedensten wegen Verletzungen fehlt.
Und der DFB hat dazu gepostet: "Schön, dass ihr da wart!" Der am Montagmorgen über die sozialen Netzwerke verbreitete Schnappschuss ist zugleich Sinnbild für das etwas eigenartig verlaufende Länderspieljahr 2019.
2019 ist fast ein verlorenes Jahr
Bundestrainer Joachim Löw konstatierte zuletzt fast betrübt: "Dieses Jahr hätte uns helfen können", wenn es nicht so viele Ausfälle und Absagen gegeben hätte. "Sie tragen nicht dazu bei, Konstanz reinzubringen, Automatismen einzuschleifen." Die durch eine immense Verletzungsmisere ausgelösten Personalsorgen seien "ständiger Begleiter" gewesen, klagte der 59-Jährige. Vieles hörte sich so an, als sei 2019 ein verlorenes Jahr gewesen. Weder ist das Gefüge über 90 Minuten kompakt, noch ist es in der Lage, die volle Spielzeit souverän aufzutreten.
Der viel zitierte Umbruch kommt nicht so recht voran, der Erneuerungsprozess wird immer wieder erschwert. Dem anspruchsvollen Trainer fehlte zeitweise eine komplette Elf. Noch immer ist die Zahl der Ausfälle dramatisch hoch. Nicht nur für das Nordirland-Spiel ist Löw jetzt auch noch der schwerer verletzte Luca Waldschmidt weggebrochen: Gut möglich, dass der 23-Jährige, der eine Mittelgesichtsfraktur mit begleitender Gehirnerschütterung sowie eine Verletzung am rechten Knie und am Sprunggelenk erlitt, ebenfalls monatelang pausieren muss.
Sané und Süle sind Wackelkandidaten
Schlimmer haben Löw die Kreuzbandverletzungen von Leroy Sané und Niklas Süle getroffen. Der eine war für den Angriff, der andere als Abwehrchef gesetzt – ob es beide rechtzeitig zur EM schaffen, steht noch in den Sternen. Gerade im Fall Süle, der sich dieselbe Verletzung vor fünf Jahren zuzog, will der Bundestrainer keinen Druck aufbauen ("der Spieler muss 100 Prozent gesund sein und sich sicher fühlen").
Quelle: dpa
Doch ohne den breitschultrigen Verteidiger wären viele Pläne für eine stabile Defensive beim EM-Turnier 2020 über den Haufen geworfen. Bis zuletzt auf Süle zu warten und zu hofffen, ist für alle Beteiligten nicht frei von Risiken. Sami Khedira hatt es in einem ähnlichen Fall bis zur WM 2014 geschafft, doch bei der EM 2016 erwies es sich als Fehler, so lange die Tür für den angeschlagenen Bastian Schweinsteiger offen zu halten. Löw bleibt gar nichts anderes übrig, als noch abzuwarten.
Andere Nationen sind weiter
Die Einbrüche jeweils in der zweiten Halbzeit gegen die Niederlande (3:2, 2:4) oder zuletzt im Test gegen Argentinien (2:2), befand der Bundestrainer, seien irgendwo vollkommen logisch. "Man kann von dieser Mannschaft nicht erwarten, 90 Minuten durchzuziehen." Dafür müsse sie eingespielt sein. Die guten Ansätze hätten ihn in diesen Begegnungen fast überrascht. Im Duktus des Bundestrainers lautet die Schlussfolgerung: Favoriten beim ersten paneuropäischen EM-Turnier 2020 sind andere.
Da wären die die Franzosen mit ihrer ausgebufften Weltmeister-Truppe, die hungrigen Engländer, die eingespielten Niederländer oder die ebenfalls im Umbruch befindlichen Spanier. Nicht zu vergessen die gerne unterschätzten Belgier, die sich viel vorgenommen haben. Nein, die Deutschen, tatsächlich auch nur auf Platz 16. der FIFA-Weltrangliste geführt, können da nicht mehr mithalten. Zu offensichtlich waren die Leistungsschwankungen, wenn auch intern die Mannschaft ein leistungsförderndes Binnenklima entwickelt genießt, wie die Protagonisten wiederholt beteuern.
Viel Zeit bleibt nicht
Doch wie sagte Joshua Kimmich als einer der neuen Wortführer sehr treffend: "Die Stimmung ist dann am besten, wenn man Spiele gewinnt." Insofern würde es nicht nur dem Selbstbewusstsein gut tun, die EM-Qualifikation als Gruppenerster abzuschließen. Trotz einiger personeller Experimente des Bundestrainers ("Der eine oder andere Spieler wird eine Chance bekommen“) soll das Team gegen Nordirland noch einen Sieg einfahren.
Denn viel Zeit bleibt Löw im nächsten Jahr nicht. Richtungsweisend für die Nominierung könnten dann noch zwei Länderspiele im März werden, wobei einmal in Spanien gespielt werden soll.
von Frank Hellmann