Es sollte das Vorzeigeprojekt des deutschen Profifußballs werden: Mit der Einführung des Videoassistenten wollte die Bundesliga ihren Fortschritt demonstrieren. Nun herrscht heillose Verwirrung. Dabei liefern andere Sportarten doch gute Beispiele.
Vielleicht wäre die Verwirrung um den Videoassistenten in der Fußball-Bundesliga nicht so groß, wenn sich alle Beteiligten beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL) einfach an die Grundsätze gehalten hätten, die am 3. März 2016 in Frankfurt vorgestellt wurden. „Die Menschen im Stadion wissen schneller, ob es Abseits war oder nicht als der Schiedsrichter. Da können wir nicht zugucken“, begründete damals der beim DFB für das Schiedsrichterwesen zuständige Vizepräsident Ronny Zimmermann die Einführung des Videoassistenten. Und der bei der DFL mit dem Spielbetrieb beauftragte Direktor Ansgar Schwenken beteuerte: „Der Videoassistent ist kein Oberschiedsrichter. Die letzte Entscheidung trifft der Schiedsrichter auf dem Spielfeld.“
Theorie und Praxis laufen konträr
Als Ziele wurden genannt: Vermeidung von offensichtlichen Fehlentscheidungen, höhere Fairness und Gerechtigkeit. Der Charakter des Spiels werde nicht verändert, indem nur wenige zusätzliche Spielunterbrechungen von geringer Dauer entstehen. Klang damals in der Theorie alles gut. Doch in der Praxis ist die Umsetzung so schlecht, dass ein Vorzeigeprojekt zu scheitern droht.
Weil übereifrige Videoassistenten aus Köln den Referee vor Ort bei diskutablen Szenen überstimmt haben. Weil überflüssige Eingriffe mit teils für den Stadionzuschauer absurden Szenarien entstanden sind. Dass der DFB heimlich nach dem fünften Spieltag eine andere Auslegung praktizierte – und plötzlich mehr als nur die „klaren Fehlentscheidungen“ überprüfte -, war ein Eigentor. Dass nun am Freitag (3.11.) in einem zweiten DFB-Rundschreiben an die Vereine zurückgerudert wurde, macht die Verwirrung komplett.
„Katastrophale Kommunikation“
„Die Kommunikation beim DFB ist katastrophal“, klagt Gladbachs Manager Max Eberl im „Kicker“. Und der ehemalige Weltklasse-Schiedsrichter und ZDF-Experte Urs Meier kritisiert: „Man sieht keine klare Linie. Das hätte ich gerade in Deutschland nicht erwartet. Die Schiedsrichterei in der Bundesliga muss wieder berechenbar werden.“ Hinzu kommt hierzulande der Streit der Schiedsrichter-Elite untereinander, die in zwei Lager gespalten ist. Im Mittelpunkt der offenbar unversöhnbaren Fehde steht mit Hellmut Krug ausgerechnet der Projektleiter des Videoassistenten in Deutschland.
Dabei wollte die deutsche Bundesliga doch unter Krugs Leitung ihre Zukunftsfähigkeit beweisen und in enger Absprache mit dem Internationalen Regelbord IFAB und dem Fußball-Weltverband FIFA in der Live-Testphase als Vorbild mit wissenschaftlicher Begleitung dienen. Doch statt einer Blaupause, wie es bei Weltmeisterschaften oder in anderen großen Ligen ablaufen könnte, kommen gerade abschreckende Beispiele zustande.
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Im Tennis oder Volleyball ist es vergleichsweise leicht
Nun ist das teils selbst angerichtete Chaos Wasser auf die Mühlen all jener Nostalgiker, die den Fußball nicht ins digitale Zeitalter hieven wollen – und der (leicht manipulativen) Tatsachenentscheidung das Wort redeten. Dabei genügt der Blick über den Fußball hinaus, dass in anderen Sportarten der Videobeweis reibungslos funktionieren kann.
Sportarten wie Tennis oder Volleyball haben es allerdings vergleichsweise leicht: Ob ein Aufschlag oder eine Rückhand im Aus landet; ob ein Schmetterball hinter die Linie fliegt oder jemand am Netz übergreift, kann ziemlich zweifelsfrei mit dem Hawk Eye aufgeklärt werden. Hier ist auch das Challenge-System sinnvoll, nachdem ein beteiligter Spieler oder eine betroffene Mannschaft eine Überprüfung verlangen kann.Die Beteiligten brauchen Bildmaterial
Für den Fußball macht das „Challenge“-Modell bei näherer Betrachtung wenig Sinn, soll der Videoassistent nicht zum taktischen Mittel verkommen. Dass IFAB und FIFA sich nur auf spielentscheidende Situationen wie Torerzielung, Elfmeter und Platzverweis beziehen wollen, ist grundsätzlich auch richtig.
Das Kardinalproblem bei der Umsetzung in der Bundesliga ist, dass die direkt Beteiligten im Stadion – also Spieler, Trainer, Funktionäre und vor allem die Zuschauer – weitgehend im Unklaren bleiben. Wieder hat der Fernsehzuschauer viel mehr Informationen vorliegen als die emotional aufgewühlten Akteure. Ein schwerwiegender Konstruktionsfehler! Auch die Beteiligten brauchen alsbald das Bildmaterial zur Aufklärung in den Fußball-Arenen. Bei der Torlinientechnologie erscheint die Auflösung schließlich auch auf der Videoleinwand.
Klare Regeln für NFL und NHL
Hier ließe sich vom American Football lernen. In der NFL wird jeder Touchdown auf auffällige Regelverstöße untersucht, außerdem kommt der Videoschiedsrichter bei sämtlichen Turnovers zum Einsatz sowie bei jeder Szene in den letzten Minuten einer Halbzeit. Der Videobeweis läuft nach festen und nachvollziehbaren Regeln ab und das Publikum im Stadion ist eingebunden.
In der nordamerikanischen Eishockeyliga NHL gibt es einen so genannten „War-Room“ in Toronto, wo die Entscheidungen getroffen werden. Dort wird bei einem „Challenge“-Aufruf beispielsweise geklärt, ob ein mögliches Offside vor einem Treffer vorlag. Niemand würde in den US-Profiligen auf die Idee kommen, solche Hilfsmittel zu verdammen.
Entscheidung darf nicht im Darkroom fallen
In der Bundesliga entsteht aber gerade der Eindruck, wichtige Entscheidungen würden „im Darkroom in Köln fallen“, wie der ehemalige Spitzenreferee Bernd Heynemann lästert. Wenn dann auch nur ansatzweise an dem Vorwurf etwas dran sein sollte, den die „Bild am Sonntag“ zum Wochenende erhoben hat – dass Krug als Supervisor im Hintergrund bei den Videoassistenten Einfluss nahm – dann wäre der Mega-Gau komplett. Die Betroffenen haben zwar umgehend dementiert, gleichwohl wirkt der insgesamt entstandene Imageschaden für eine eigentlich sinnvolle technische Weiterentwicklung im Profifußball schon jetzt fatal – und nur noch schwer reparabel.