Lucien Favre lernt gerade schmerzhaft aufs Neue, wie es ist zu verlieren. Und der BVB lernt vor dem Bundesliga-Spitzenduell mit Favres Ex-Klub Mönchengladbach (heute, 20.30 Uhr/ZDF ab 20.15) eine neue Seite des Trainers kennen.
Es hätte der perfekte Abschluss sein können aus Dortmunder Sicht. Ein Flutlichtspiel im früheren Westfalenstadion, Erster gegen Zweiter. Lucien Favre gegen sein früheres Team aus Gladbach. Das ewig junge Borussen-Duell als entspannter Jahresausklang: mit sattem Vorsprung des Liga-Spitzenreiters BVB, unabhängig vom Resultat dieser Partie. Doch nach der jüngste ersten Saison-Niederlage kriecht bei Schwarz-Gelb die Sorge hoch, die grandiose Hinrunde mit einem Euphorie-Killer zu beenden.
Schwarz-gelber Vorsprung
"Wir lernen jeden Tag dazu, auch als Trainer", sagt Favre fast kleinlaut vor der letzten Partie des Fußballjahres 2019. Eine Heimpleite gegen die Elf vom Niederrhein, und der kürzlich noch satte Vorsprung von neun Punkten wäre auf drei Zähler geschrumpft.
Hatte Favre bisher alles richtig gemacht beim magischen Aufschwung der Westfalen, so ging der Ausrutscher des frisch gebackenen Herbstmeisters bei Fortuna Düsseldorf (1:2) mit auf seine Kappe.
Erstmals in Favres halbjähriger BVB-Amtszeit lief der Liga-Matchplan aus dem Ruder. Vor allem die Rotation. Ob es so kurz vor der Winterpause wirklich nötig war, Stützen wie Jadon Sancho, Paco Alcacer oder Raphael Guerreiro zu schonen, stand nach der Niederlage als Vorwurf im Raum.
Zum ersten Mal reagierte Favre pampig auf Kritik, obwohl Sportdirektor Michael Zorc erst jüngst via "FAZ" den sanften Charakter des Coaches gelobt hatte. "Wir erleben Lucien als sehr umgänglich, charmant, ehrlich und herzlich." Vermutlich lernt Favre gerade aufs Neue, wie es ist zu verlieren. Und der BVB lernt eine neue Seite des Trainers kennen.
Schlendrian oder Blablabla?
Sogar selbstkritische Worte seines Kapitäns Marco Reus wies der Trainer gereizt zurück - obwohl er einen Tag zur Reflexion hatte. Fehlende Gier? "Das ist doch Blablabla", ätzte Favre.
Ob er die Aussage auf sich bezog? Reus hatte zuvor auch Schlendrian in der Spielvorbereitung angedeutet: Der Nationalspieler kannte nicht den Namen seines Düsseldorfer Gegenspielers. Letztlich fällt das auf den Trainer zurück. Genau wie die mangelnde Antizipation des Gegners. So schien der BVB überrascht vom Speed des F95-Stürmers Dodi Lukebakio. Wie konnte der flinke Belgier, dem drei Tore beim FC Bayern gelangen, einem Detail-Fanatiker wie Favre in der Video-Analyse entgehen?
Blick zu weit voraus
Womöglich hatte der Perfektionist nach 15 Liga-Spielen ohne Niederlage, dem Gruppensieg in der Champions League und dem Sprung in die 3. Runde des DFB-Pokals den Blick schon auf die zweite Saisonhälfte gerichtet. Auf den weiteren Umbau des Kaders, aufs Erlernen alternativer Spielsysteme, auf neue Trainingsformen. Aber nun gilt auch für den Fußball-Lehrer: zurück zu den Basics. Vorm Akku-Aufladen muss Favre noch mal alle Sinne schärfen auf das Hier und Jetzt.
Favre muss improvisieren
Das wird schwer genug. Gegen die zweitbeste Offensive der Liga ist angesicht der schwarz-gelben Personalsorgen Improvisation angesagt. Abwehrchef Manuel Akanji und Abdou Diallo fallen aus, für Dan-Axel Zagadou kommt das Topspiel zu früh. Einzig Ömer Toprak bleibt als Innenverteidiger übrig.
"Im Moment wissen wir nicht, wie wir reagieren", so Favre. Möglich, dass Lukasz Piszczek in der Mitte aushilft oder der BVB auf eine Dreierkette umstellt. Beides ein Wagnis, gegen flinke Fohlen wie Hazard, Traore, oder Plea. Favre warnt: "Gladbach spielt sehr effizient und geht schnell in die Tiefe."
Favres Stärke: Lösungen finden
Aber Lösungen zu finden, das zeichnet Favre aus. Als Trainer von Hertha BSC kam er einst auf die kühne Idee, Lukasz Piszczek vom Stürmer zum Außenverteidiger umzuschulen. Gladbach formte er vom Abstiegskandidaten zum Champions-League-Klub. Auch beim BVB setzt er schon nachhaltig Impulse.
Marco Reus blüht als Kapitän auf. Jungstars wie Sancho oder Achraf Hakimi entwickeln sich prächtig, Sorgenkinder wie Mario Götze oder Guerrero sind zurück in der Spur.
Favres Zwischenbilanz ist ohnehin herausragend: Wie schnell er die als irreparabel geltende Unwucht im BVB-Spiel behoben hat, ist atemberaubend. Wie rasch er an zentralen Stellen neue Spieler wie Witsel, Delaney oder Alcacer integriert hat, ist bewundernswert. Genau wie die neue Stabilität der Defensive sowie die irre Offensivpower, die den Fans viel Freude macht.
Favres Lernkurve
Auch die Lernkurve des Trainers ist beeindruckend. Der früher eher als Feingeist wahrgenommene Favre hat sich einen hemdsärmeligen Touch verpasst. "Bei uns legt Lucien auch extrem viel Wert auf Physis und Laufwerte, auf körperliche Fitness und Wucht. Er hat die neuesten Entwicklungen des Fußballs aufgenommen", lobte Sportdirektor Zorc den Wandel. Und als Alternative fürs schmerzhafte Verlieren-Lernen gibt es ja immer noch: Gewinnen.