Lebenslügen und Familiengeheimnisse

Jedem, dem ich von meinem Filmvorhaben erzählte, berichtete sofort von seiner eigenen Familie und ihren Geheimnissen. Es kamen Dinge zur Sprache, deren Tabus ihre Schatten geworfen hatten, weil sie jahrzehntelang nicht ausgesprochen werden durften.

Ich hörte Geschichten über einen unaufgeklärten Mord an der Großmutter, über die Nazi-Vergangenheit des Onkels, den Suizid der Tante, über das adoptierte Kind, das nie etwas über seine Herkunft erfuhr, über den großen Bruder, der ein Doppelleben führte, die Großtante, die ein Kuckuckskind war oder über die Homosexualität des jüdischen Großonkels.

Für den Film traf ich zwölf Familien, die mit dem brechen wollten, was über Jahre und mit aller Kraft unter der Decke gehalten wurde. Sie befanden sich auf Spurensuche oder hatten ihre Geheimnisse gerade aufgespürt. Das erforderte viel Aufwand, weil die Macht des Verschweigens stark war und die lieben Verwandten alles unternommen hatten, um das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Was die Mehrheit der Wahrheitssuchenden vereinte: Sie hatten schon früh etwas geahnt. Das aber belastete ihr Zusammenleben unaufhörlich.

Hassan war einer der ersten Protagonisten, die ich zu filmen begann. Ich habe ihn nie veröffentlicht, denn nach drei Drehtagen mussten wir abbrechen. Hassan ist ein muslimischer schwuler Mann, der seinen Eltern seine Homosexualität lange verschwiegen hatte und ihnen erst vor kurzem sein Geheimnis anvertraute. Er träumt von einer sexuellen Revolution, in den Köpfen konservativer Muslime. Auch seine Eltern gaben mir Interviews, weil sie sich über das, ihnen erst seit kurzem bekannte, Glück des Sohnes freuten – trotz ihrer konservativen, homophoben Verwandten in der Türkei. Sie würden die Liebe des Neffen ächten, sobald sie die Wahrheit erführen. Hassan postete seine ersten Dreherfahrungen mit uns auf Tiktok und Instagram. Daraufhin wurde er beschimpft und erhielt sogar Morddrohungen. Er zog sich zurück, wollte in keinem Film mehr mitwirken.

Als wir Taner treffen, berichteten wir ihm von dem Fall und der Gefahr, der er sich aussetzen könnte, wenn er an die Öffentlichkeit tritt. Er wollte es dennoch wagen, in der Hoffnung, dass niemand Rückschlüsse zieht, wo er lebt. Denn als Sozialarbeiter vertritt er türkische Familien vor Gericht und hat es schon oft erlebt, dass sich seine Klienten weigerten, weiter mit ihm zusammenzuarbeiten, sobald sie erfuhren, dass er queer ist.

Britta und Bianca traf ich vor über einem Jahr zum ersten Mal. Damals wusste Britta erst seit kurzem, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater ist. Diese Lebenslüge erschütterte sie. Plötzlich wusste sie nicht mehr, wer sie war, meldete sich krank und begann eine Therapie. Heute fühlt sie sich besser, auch weil sie fünf Halbgeschwister fand, ihre Familie dadurch größer und bunter wurde. Die Wahrheit führte sie auch zu ihrem anonymen Samenspendervater. Er möchte sie nicht treffen.

Und auch wenn die Lüge ihrer Eltern Wunden hinterließen, ist Britta ihnen dankbar, auf der Welt zu sein und brauchte die Wahrheit zu ihrer Identitätsfindung. Denn erst jetzt hat sie das Gefühl, ihrem Leben eine neue Richtung geben zu können. Sie kündigte ihren Job und will mit ihren 35 Jahren noch einmal studieren, um Schulpsychologin zu werden.

Als Bianca die Stolpersteine vor dem Haus ihrer Großeltern entdeckte, setzte sie alles in Bewegung, um aufzuklären, wer die jüdischen Vorbewohner waren und inwiefern ihre Großeltern ihr Schicksal mitverantwortet hatten. Aus ihren Recherchen ist eine Graphic Novel entstanden. Das Buch heißt „Der Duft der Kiefern“ und hat am Ende unserer Dreharbeiten den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen. Seitdem organisiert Bianca Lesungen in Schulen, um das Gedenken an die jüdischen Nachbarn ihrer Großeltern aufrecht zu erhalten und für Aufklärung zu plädieren.

Was die Vergangenheit von Biancas Großvater betrifft, bleibt vieles bis heute offen. Möglicherweise gab es Verwandte, die etwas wussten, aber die sind längst tot. Das vereint Bianca und ihre Familie mit vielen anderen Betroffenen. Denn ich traf einige Menschen, die von einer Mehr-Generationen-Lüge sprachen. Mögliche Gründe dafür waren, dass sie in einer engen emotionalen Beziehung zu ihren Nächsten steckten, die eigene Verwandtschaft idealisiert oder sich von einer Schuld reinzuwaschen versuchten und deshalb schwiegen.

Bis zum Schluss war es spannend für mich zu erfahren, was Familiengeheimnisse bewirken können, welche Rollen Angst und Scham dabei spielen und was die Lebenslügen mit der Identitätsentwicklung der Kinder machen. Manches ist im Dunklen geblieben und verfolgt weiter seinen Zweck, ein Familiengeheimnis zu bleiben. Vielleicht aber kommt die Wahrheit irgendwann per Zufall ans Licht, weil sie über Jahre zwischen alten Kisten, in Briefen, als sogenannte Leichen im Keller oder als Schatz auf dem Dachboden steckte. Einmal ausgesprochen, erleichtern sie das Gewissen oder schaffen ihren Weg in die Auseinandersetzung.