Erneut Angriffe auf die Ukraine: Charkiw im Visier Russlands

    Analyse

    Zerstören statt einnehmen?:Was Russland mit Charkiw wirklich vorhat

    von Christian Mölling und András Rácz
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    Russland behauptet, die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw einnehmen zu können. Welche Gründe dagegen sprechen und was Moskau wohl tatsächlich bezweckt.

    Polizeibeamte arbeiten am Ort eines Raketenangriffs in Charkiw.
    Nach einem Raketenangriff auf Charkiw: Ukrainische Polizeibeamte ermitteln vorr Ort.
    Quelle: AFP

    Mehrere prominente russische Politiker und öffentliche Kommentatoren haben kürzlich betont, dass Russland im Rahmen der "speziellen Militäroperation" sogar Charkiw einnehmen könnte. Es wurde mehrfach gesagt, dass Charkiw eine russische Stadt sei, ebenso wie Odessa, Mykolajiw und eine Reihe anderer großer Städte in der Ost- und Südukraine.
    Ein Blick auf ein zerstörtes Privathaus nach einem russischen Raketenangriff in der Region Kiew, Ukraine, Mittwoch, 8. Mai 2024.
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    Geringe Kapazitäten in russischer Armee

    Russland verfügt jedoch eindeutig nicht über die militärische Macht, Charkiw zu belagern und zu besetzen - aus mehreren Gründen:
    • Erstens ist Charkiw eine riesige Stadt, die zweitgrößte der Ukraine, mit einer Vorkriegsbevölkerung von fast 1,5 Millionen. Sie ist ein wichtiges industrielles, logistisches und auch kulturelles Zentrum. Daher würden die ukrainischen Streitkräfte sie sicherlich bis zum letzten Haus verteidigen, wenn es nötig wäre. Die Stadt wird seit Februar 2022 ständig befestigt und verstärkt.
    Vor allem aber fehlt es der russischen Armee eindeutig an der Anzahl und Qualität der Infanteriekräfte, die für einen Stadtkampf dieser Größenordnung erforderlich sind.
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    Ein guter Indikator dafür ist, dass Russland fast zehn Monate brauchte, um Bachmut einzunehmen, eine Stadt mit 70.000 Einwohnern vor dem Krieg - und Charkiw ist zwanzigmal größer.
    Ein Stadtkampf solchen Ausmaßes wäre bestenfalls ein Pyrrhussieg für die bereits dezimierten russischen Berufsinfanteriekräfte.

    Keine Unterstützung in Charkiw

    • Zweitens sympathisiert die entscheidende Mehrheit der Bevölkerung von Charkiw überhaupt nicht mehr mit Russland. Russland versuchte 2014 auch in Charkiw ein Szenario des "russischen Frühlings" zu schaffen und eine ähnliche Separatistenbewegung wie in Donezk und Luhansk ins Leben zu rufen, aber die lokale Bevölkerung war für diese Idee überhaupt nicht empfänglich. Nach einigen Tagen der Unruhen wurde der russische Umsturzversuch daher eingestellt.



    Außerdem war Charkiw seit dem Beginn der umfassenden Invasion praktisch ständig russischen Angriffen ausgesetzt. In den ersten Monaten der Invasion versuchten die Russen, Charkiw zu überrennen und später zu belagern, die Stadt war mehrere Monate lang halb umzingelt, bis eine ukrainische Gegenoffensive sie im Herbst 2022 befreite.
    Aufgrund des anhaltenden russischen Bombardements kam es zu großen Zerstörungen und humanitärem Leid. Die Artillerie- und Raketenangriffe hörten auch nach der Zurückdrängung der russischen Armee durch die ukrainischen Streitkräfte nicht völlig auf, sondern haben sich in den letzten Monaten sogar noch erheblich verstärkt.
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    Einige kleinere Siedlungen östlich und nordöstlich von Charkiw wurden von den russischen Streitkräften besetzt und furchtbar verwüstet. Die Einwohner von Charkiw wissen daher genau, was eine russische Besetzung für sie bedeuten würde.

    Russland geht es eher um Unbewohnbarkeit

    All diese Faktoren sind auch dem Kreml bestens bekannt. Daher ist es wahrscheinlicher, dass das eigentliche Ziel Russlands nicht darin besteht, Charkiw tatsächlich zu besetzen, sondern es unbewohnbar zu machen. Indem es Charkiw entvölkert und die meisten Bewohner vertreibt, könnte Moskau die Flüchtlingssituation innerhalb der Ukraine und indirekt auch im Westen erheblich verschärfen.
    Karte von Charkiw, Ukraine
    Die russische Armee hat sich auf die Eroberung von Charkiw konzentriert.
    Quelle: ZDF

    Die Tatsache, dass Russland die Energieversorgung und andere zivile Infrastrukturen in und um Charkiw systematisch zerstört, ist ein deutlicher Hinweis darauf. Mitte Mai 2024 sind die meisten Kraftwerke, die Charkiw versorgen, entweder zerstört oder schwer beschädigt. Das Energienetz ist noch mehr oder weniger integriert, aber es kommt bereits zu Stromausfällen. Weitere werden folgen, wenn die Russen ihre Angriffe auf die Transformatoren konzentrieren und so versuchen, das Netz zu zerschlagen.

    Terror aus der Luft

    Die häufigen Raketenangriffe auf Wohngebiete der Stadt deuten ebenfalls darauf hin, dass Russland die Absicht hat, die Stadt zu entvölkern. Es ist kein Zufall, dass Russland hier mehrere S-300-Luftabwehrraketen gegen Bodenziele eingesetzt hat. Zwar ist diese Waffe im Boden-Boden-Einsatz notorisch ungenau, doch wenn das Ziel nicht darin besteht, einen Präzisionsschlag zu führen, sondern die Zivilbevölkerung durch scheinbar wahllose Angriffe auf nicht-militärische Ziele zu terrorisieren, eignet sich die S-300 für diese Aufgabe.
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    Russland nutzt Charkiw auch als Testgelände für die von Nordkorea erhaltenen ballistischen Raketen KN-23. Die Waffen sind Berichten zufolge sehr ungenau und unzuverlässig, können aber dennoch Ziele von der Größe Charkiws treffen.
    Alles in allem ist es derzeit am wahrscheinlichsten, dass Russland Charkiw in nächster Zeit nicht belagert, sondern alles daransetzt, die Stadt zu ruinieren und zu entvölkern. Gerüchte über eine bevorstehende Belagerung sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Drucks.
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