Interview
DDR-Geschiedene diskriminiert:Die vergessenen Mütter, Tanten und Großmütter
von Svetlana Ulman
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Geschieden, alleinerziehend und weniger Rente: Wie die deutsche Einheit Ost-Frauen zu Verliererinnen machte - und wie der Härtefallfonds sie 2023 erneut diskriminierte.
In Marienborn ist ab dem 8. März die Ausstellung "Frauen kämpfen um ihr Recht - In der DDR geschieden, durch den Einigungsvertrag diskriminiert" zu sehen.
Quelle: Julia Nowak/Gedenkstätte Marienborn/ZDF
Helga Toepke ist 85 Jahre alt und lebt in Magdeburg. Sie ist geschieden, dreifache Mutter und vierfache Großmutter. Nach der Wende wurden der diplomierten Chemikerin neun Erwerbsjahre abgezogen, weil sie für ihren jüngsten asthmakranken Sohn zu Hause geblieben war.
1990 ging ihre Ehe in die Brüche. Hätte sie mit ihrer Scheidung noch bis 1992 gewartet, wäre sie eine BRD-Geschiedene: Die Rentenpunkte des Ex wären im sogenannten Versorgungsausgleich zwischen beiden aufgeteilt worden.
Helga Toepke wurden neun Erwerbsjahre abgezogen, weil sie sich nach DDR-Recht scheiden ließ.
Quelle: ZDF
Mit dem Rentenüberleitungsgesetz 1991 wurde bundesdeutsches Rentenrecht über DDR-Rentenrecht gestülpt und Leidtragende waren unter anderem die in der DDR geschiedenen Frauen.
Denn obwohl sie ihren Männern jahrelang den Rücken für die Karriere freihielten, im Familienbetrieb unentgeltlich mitarbeiteten oder Familienangehörige pflegten, erhielten sie dafür keinen Versorgungsausgleich nach westdeutschem Recht. Ihre Ex-Männer durften die ganze Rente für sich behalten. Eine geschätzte halbe Million Frauen wurden im Rentenalter nach 1996 plötzlich zu Sozialfällen, obwohl sie jahrzehntelang erwerbstätig gewesen waren.
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DDR-Rentenrecht: Care-Arbeit als volle Arbeitszeit angerechnet
Im DDR-Rentenrecht wurden nur die letzten 20 Berufsjahre betrachtet. Care-Arbeit wurde als volle Arbeitszeit angerechnet. Frauen bekamen den Männern gleichwertige Renten. Ein Grund dafür, dass die Architekten der deutschen Einheit argumentierten: Die Frauen im Osten hätten selber genug verdient und seien nicht auf den Versorgungsaugleich ihrer geschiedenen Männer angewiesen.
Die Beraterin in Menschenrechts- und Genderfragen, Marion Böker, errechnete, dass Betroffene auf diese Weise im Durchschnitt 300 Euro weniger Rente monatlich erhalten haben. Sie sagt:
Die Frauen kämpften erst einzeln, später gemeinsam im 1999 gegründeten Verein "DDR-geschiedene Frauen". Sie verloren unzählige Rechtsprozesse bis sie mit Marion Böker beim UN-Ausschuss Frauenrechtskonvention 2017 einen Sieg erwirkten: Deutschland wurde von der UN auferlegt, ein Entschädigungsmodell für die Frauen zu finden.
Marion Boeker, Beraterin in Menschenrechts- und Genderfragen, im Mai 2023 mit Vereinsfrauen bei der UN.
Quelle: Marion Boeker
Doch statt eines Entschädigungs- oder Gerechtigkeitsfonds beschlossen die Parteien 2022 die "Stiftung Härtefallfonds" zur "Abmilderung von Notfällen". Eine Einmalzahlung von 2.500 Euro (bzw. 5.000 Euro in fünf Bundesländern) für die Frauen und gleichzeitig 16 Berufsgruppen wie zum Beispiel Bahnmitarbeitende (die sogenannte Ost-West-Rentenüberleitung) sowie Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge.
- Mindestens zehn Ehejahre mit mindestens einem Kind
- Scheidung nach DDR-Recht
- Rente durfte am 01.01.2021 nicht höher als 830 Euro netto sein
- Vor dem 02.01.1952 geboren
Bislang wurden in der Ost-West-Rentengruppe nur 532 Anträge bewilligt. Wie viele davon DDR-Geschiedene sind, wurde noch nicht ausgezählt.
Kritik an Wirksamkeit des Härtefallfonds
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"Die geringen Antragszahlen sowie die hohe Ablehnungsquote deuten nach Ansicht der Fragesteller darauf hin, dass die Informationsangebote (...) zum Härtefallfonds und zur Antragstellung unzureichend und die Hürden zur Inanspruchnahme der Leistungen viel zu hoch waren", heißt es in der "Kleinen Anfrage der Fraktion CDU/CSU" an den Deutschen Bundestag, Drucksache 20/10334.
Sehr konkret und klar ist auch die Handlungsempfehlung der UN an Deutschland (Überprüfungsausschuss der UN-Menschenrechtskonvention CEDAW, 85. Sitzung am 11. Mai 2023 in Genf): "Ändern Sie die Kriterien des Fonds für besondere Härtefälle, so dass er allen geschiedenen Frauen aus der ehemaligen DDR finanzielle Unterstützung bietet, die (…) Diskriminierung erfahren mussten (...) , und stellen Sie pro aktiv sicher, dass alle Frauen, die Anspruch auf den Fonds haben, sich ihres Rechts bewusst sind." Warum handelt die Regierung immer noch nicht?
Vertrauensverlust in die Regierung wiegt schwer
"Unsere Vorsitzende ist mittlerweile im Seniorenheim. Viele Mitstreiterinnen sind bereits verstorben, einige sehr arm", erzählt Helga Toepke. Sie fragt:
Geschätzte 100.000 DDR-Geschiedene leben noch. 95 bis 97 Prozent sollen durch das Raster des Härtefallfonds gefallen sein, so wie die Magdeburgerin Helga Toepke.
Der Vertrauensverlust in die Regierung, den diese Frauen erlebt haben, wiegt schwer - und ob bewusst oder unbewusst, er wurde an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.
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