Überleben! - mit Antje Boetius
Überleben! - mit Antje Boetius
Zweiteilige Dokureihe
Meeresbiologin und Systemforscherin Antje Boetius untersucht das Geheimnis der Erfolgsgeschichte unserer Spezies und reist an Orte, an denen Forschende Lösungen für eine lebenswerte Zukunft finden.
Überlebenswissen und Entwicklung als Menschheit
Acht Fragen an Antje Boetius
Frau Prof. Boetius, warum lohnt sich der Blick in die Vergangenheit, wenn es um das Überleben der Menschheit in der Zukunft geht?
Heute fragen wir uns oft: Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, dass wir uns um das Wohlergehen des ganzen Planeten und der ganzen Menschheit auf diesem Planeten sorgen müssen? Warum – mit all dem Fortschritt und Wissen – geht es uns Menschen eigentlich nicht besser? Dann hilft es doch tatsächlich, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Wo kommen wir her? Das fängt damit an, mit den Großeltern zu sprechen: Wie ging es euch, als Technik auf einmal alles verändert hat? Aber es geht aber auch viel tiefer. Wenn wir unsere Ursprünge begreifen – wo kommen wir Menschen her, was sind wir eigentlich für ein merkwürdiges Tier? – dann hilft das unsere heutigen Alltagsprobleme nicht so ganz so schwer und erdrückend zu sehen, sondern zu verstehen: Es kann ordentlich holpern, aber eigentlich kommen wir doch weiter, wenn wir zusammenhalten, zusammen weiterarbeiten an der Zukunft, die wir wollen.
Sie haben für die Dokumentation mit den jeweils führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesprochen. Was waren die entscheidenden Faktoren, warum ausgerechnet der Homo sapiens überlebt hat und nicht eine andere Menschenart?
Warum der Homo sapiens überlebt hat und nicht eine andere Menschenart, ist wirklich ein ganz brandaktuelles Thema in der Wissenschaft. Denn jetzt erst haben wir die molekularen und chemischen Methoden und auch die geologischen Methoden, um herauszufinden: Seit wann gibt es uns eigentlich als Art? Die Geschichten "Homo sapiens war schlauer, schneller und hat die anderen platt gemacht", können wir wohl zur Seite legen. Denn es zeigt sich auch, dass die Vielfalt der Menschen ineinander aufgegangen ist, dass wir genetisches Erbe der mit uns gleichzeitig vorkommenden Menschengruppen weitertragen. In Homo sapiens steckte aber vielleicht ein bisschen mehr Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zur Innovation, zum Mut des Aufbrechens und Reisens als bei den anderen Menschen, die zu gleicher Zeit mit uns lebten. Um das zu verstehen, müssen wir mehr als 30.000 Jahre zurückreisen. Dieses bisschen mehr Mut, Zusammenarbeit, Innovation – das muss uns jetzt nach vorne bringen: Denn das ist Überlebenswissen.
Welches Wissen aus der Vergangenheit können – oder müssen – wir in die Zukunft transferieren?
Viele Menschen, mit denen ich spreche, fragen immer wieder: Warum müssen wir denn alles kaputtmachen? Wieso gelingt uns die Zukunft nicht? Dann kann man sich herleiten, wie es früher war. Wie haben Menschen für Jahrtausende im Wald, in Städten gelebt, ohne ihn zu vernichten? Wie haben sie Boden aufgebaut, Oasen gebaut und Wasser geteilt? Wie haben sie ein Riff gepflegt, sodass sie davon leben konnten? Uns zu beweisen, dass wir nicht unbedingt Zerstörer sein müssen, sondern dass unsere eigenen sozialen Regeln, unser Wissen zur Pflege der Natur, dass uns das auch in Zukunft helfen muss. Aber eben nicht im Kleinen, sondern auf der ganz großen Skala des Planeten und der internationalen Zusammenarbeit. Dafür bringen wir viele tolle Beispiele im Film.
Welches der Forschungsprojekte, die Sie in der Reihe vorstellen, fasziniert Sie am meisten?
Da hatte ich bei jeder Reise das Gefühl: Das ist jetzt wirklich das Spannendste, was ich jemals gehört habe! Und das sind die tollsten Leute, denen ich gerade begegne! Und deswegen gelingt es mir auch nicht zu sagen: Das eine Projekt war nun am faszinierendsten. Vielleicht kann ich sagen, dass, als wir uns am Ende mit dem Thema "Stadt der Zukunft" beschäftigt haben, ich das erste Mal auf dem indischen Kontinent war und in Bangalore mit Forscherinnen und Forschern sprechen konnte: Wie baut ihr die "Stadt der Zukunft"? Da, wo die Städte schneller wachsen als alles, was wir bisher auf der Erde an Wachstum hatten. Da bin ich auf völlig neue Gedanken gekommen, wie wir mit Klimakrise, Starkregen und Extremwettern – eigentlich auch auf Basis altem Wissens – künftig umgehen können. Und wie viel Hoffnung bei den Menschen zu finden ist, die wesentlich weniger als Basis dafür haben als wir in Deutschland.
Auf welche neuen Gedanken sind Sie in Bangalore gekommen?
In Bangalore, in Indien, bin ich Ökologinnen und Ökologen begegnet, die über neue Arten des Lernens nachgedacht haben: Wie können wir mit jungen Menschen die Technik, die Innovation, die künstliche Intelligenz lernen, die es für eine nachhaltige Zukunft braucht? Wie können wir mit der Nachbarschaft, die oft noch Landwirtinnen und Landwirte sind, direkt auf dem Campus Wissen teilen? Wie können wir Türen öffnen, um die Konflikte der Stadt mit der Landbevölkerung zu lösen? Ich sah, wie Bäume für Schatten bewahrt werden, Seen und Teiche gepflegt werden als Überläufe bei Regen, kleine Wege gebaut werden, auf denen man mit der Familie spazieren gehen kann. Diese Beteiligung der Stadtbevölkerung und der Forschung direkt an Projekten in der Stadt so mitverfolgen zu können, das hat mich beflügelt.
Sie sprechen in der Dokumentation vom "Schatz des Überlebenswissens". Was verbirgt sich dahinter, und wie kann jeder Einzelne dazu beitragen, diesen zu wahren und zu erhalten?
Auf der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Überleben der Menschen in den extremsten Lebensräumen wie Wüste, Tropenwald oder Ozean oder auch Eis, sind wir immer wieder darauf gestoßen: Dass Menschen für Jahrtausende durch Naturbeobachtung, durch Pflege der Umwelt, Geheimnisse gelüftet haben. Das war eigentlich auch schon naturwissenschaftliches Wissen, auch wenn es damals noch keine Universität gab. Sie haben dieses Wissen oft nur mündlich weitergegeben, und so sind dennoch Expertinnen und Experten in der Pflege der Natur entstanden. Heute wissen wir: Leider ist viel von diesem Überlebenswissen durch den Kolonialismus verloren gegangen. Doch die Wissenschaft buddelt einiges davon mit Hilfe der lokalen Bevölkerung aus und überlegt, wie wir alle dieses Wissen nutzen können: Wie schaffen wir ein Gleichgewicht mit Klima und Natur, die Pflege des globalen Gemeingutes? Denn nur so gelingt es, unseren Planeten gesund und auch zukünftig bewohnbar zu halten.
Sie befassen sich seit vielen Jahren mit ökologischen Systemen. Was ist für Sie die markanteste Veränderung in dieser Zeit?
Ich bin seit 30 Jahren auf den Ozeanen unterwegs, auf und unter den Meeren und damit auch in den Küstenregionen, den Häfen, in den Städten, forsche und rede mit vielen Menschen auf der ganzen Welt darüber, was sich verändert hat. Der Weltozean ist ja nun mal die Lunge, das Herz und eigentlich auch der Magen der Erde. Alles zusammengenommen kann man sagen, dass wir genau in dieser Zeit unfassbare Verluste erlitten haben. Man muss nur mal an den Verlust der Korallenriffe denken, die nun bis zu 90 Prozent ausbleichen, oder das Schwinden des Meereises. Und wenn wir weiter als 30 Jahre zurückreisen, betrifft das die weltweite Tötung der größten Meeressäuger, der großen Wale.
Da stellt sich wieder die große Frage: Wie konnte es passieren, dass das Verhältnis zur Natur, die langfristig unser Überleben sichert, uns aus den Händen geglitten ist? Dass wir heute in unseren Alltagsentscheidungen, wie beispielsweise unserem Konsumverhalten, für die Natur und die Mitwelt tödliche Entscheidungen treffen – auch wenn wir das gar nicht wollen. Warum können wir da nicht zukunftsgewandter handeln? Weil uns immer noch der sozioökonomische Rahmen dafür fehlt, der genau das belohnt. Aber ich habe auch die Erkenntnis gewonnen – und das kann auch Hoffnung machen –, dass es bei der Lösung darum geht, ein Gleichgewicht zu erringen, Kreisläufe zu stärken – beim Klima wie bei den Ökosystemen. Ökosysteme sind nie ganz stabil, sie sind immer dynamisch. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken, lokal bis global – ob Eis, Wald, Ozean, Agrarsysteme oder Leben in Städten.
Welche Erkenntnis nehmen Sie persönlich von diesen Drehreisen mit?
Für mich waren die Reisen an diese extremen Orte immer eine Freude und auch eine große Lehre. Weil ich aktueller Forschung über die Schulter gucken durfte. Ich bin Tiefseeforscherin, aber konnte zum Beispiel Anthropologen, Waldforschern oder Riffforscherinnen bei ihrer Arbeit begleiten. Da habe ich gemerkt, mit welcher Hingabe und mit welchem Feuer die Wissenschaft dabei ist, alte Rätsel zu lösen, um daraus neues Wissen für die Zukunft zu machen. Und das hat mich begeistert. Und das hat natürlich auch die Natur selbst getan, die ich vorher so nicht kannte. Wo ich mich zurechtfinden musste, wo es auch körperlich manchmal anstrengend war wie in der Wüste und auf der Eismitte Grönlands. Aber ich habe von den Reisen ein wundervolles Bild unserer Erde und dieser Extremstandorte gewonnen und auch Freundschaften geschlossen mit den Menschen, die ich dort getroffen habe.
Das Interview führte Marion Leibrecht, ZDF Kommunikation.