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Systemsprenger: Versagt die Jugendhilfe?

Schwierige Kinder, die von Heim zu Heim weitergereicht werden: Solche Brüche erzeugen ‎mitunter Systemsprenger, sagen Intensivpädagoge Baumann und Kinderpsychologe Rücker. ‎

Videolänge:
16 min
Datum:
17.05.2021

ZDF: Herr Baumann, was macht Kinder oder Jugendliche zu Systemsprengern?

Menno Baumann: Das ist sehr unterschiedlich. Also auf der einen Seite haben wir es natürlich überdurchschnittlich häufig mit Kindern zu tun, die in ihrem Leben schweren Risikofaktoren ausgesetzt waren: Traumatisierung, Gewalt, Vernachlässigung, extrem zerstrittene Familienverhältnisse. Wir haben häufig solche Hintergründe - aber auch nicht bei allen Kindern. Auf der anderen Seite muss man eben sagen, es gibt auch die Kinder, die vom System gesprengt sind. Also die einfach durch die Maschen der Hilfesysteme geraten.

Stefan Rücker: Die Kinder machen Ablehnungserfahrungen, sie erleben Bindungs- und Beziehungsabrisse - das ist die Ursache des Problems und das System verschärft das Problem auch nochmal. Diese Kinder werden nicht zu Systemsprengern, sondern das System macht sie zu Systemsprengern.

ZDF: Wie viele Kontaktabbrüche haben die Kinder im Schnitt, die zu Ihnen kommen?

Diese Kinder werden nicht zu Systemsprengern, sondern das System macht sie zu ‎Systemsprengern.“‎
Dr. Stefan Rücker, Kinderpsychologe
Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik
Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik
Quelle: ZDF

Menno Baumann: Wir haben einen einzigen Jugendlichen in den letzten Jahren gehabt, der direkt von Zuhause kam. Und alle anderen haben vorher relativ lange Jugendhilfe-Karrieren. Das fängt an so bei vier, fünf Abbrüchen. Unser Rekordhalter hatte 16: der ist mit 13 Jahren zu uns gekommen und war schon an 16 Orten untergebracht, wo er überall rausgeflogen ist.

ZDF: Wie genau sieht denn die Mitarbeiter-Situation in den Jugendheimen allgemein aus?

Menno Baumann: Also grundsätzlich haben wir in der Jugendhilfe wirklich relativ klar Gruppengrößen von acht bis zehn Kindern und einen Mitarbeiterschnitt von 4,5 bis 5,5 Mitarbeiterstellen. Das heißt zu großen Teilen sind die Mitarbeiter dort alleine. (…) Und selbstverständlich kann ich zum Beispiel körperliche Gewalt schwer regulieren, wenn ich alleine mit neun Kindern bin. Oder auch ein ständiges Weglaufen, wenn ein Jugendlicher ständig nachts irgendwo abgeholt werden muss.

ZDF: Wie könnte man solche Situationen verhindern?

Menno Baumann: Jugendamt-Mitarbeiter bearbeiten zwischen 40 und 80 Fällen, je nach Jugendamt – die haben nicht die Chance, sich stundenlang mit der Frage zu beschäftigen, was dieser junge Mensch braucht, sondern die müssen in so einem Moment, wenn ein junger Mensch in Obhut genommen werden muss, müssen die hier und jetzt eine Entscheidung treffen. Und da fehlen mir einfach so ein bisschen diese Zeitschleifen, die wir uns nehmen, um einfach gute und seriöse Entscheidungen für die Kinder zu treffen - und vor allem mit den Kindern auch zu treffen.

„Junge Menschen müssen bei Entscheidungen viel mehr beteiligt werden – sie haben oft ein gutes Gespür dafür, was für sie gut wäre.“
Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik

Stefan Rücker: Wichtig ist es auch, dass man frühzeitig erkennt, dass sich so eine Hilfe-Karriere abzeichnet. (…) Nehmen wir das konkrete Beispiel von einem Kind, das eine Schule besucht und sehr auffällig ist. Das Kind wird von der Schule verwiesen. Dann ist es eben erforderlich, dass eine andere Schule gefunden wird. Es kann aber auch bedeuten, dass die Grenze der Gebietskörperschaft des Jugendamtes überschritten wird. Das heißt, das Kind kommt in einen anderen Fall-Zuständigkeitsbereich und dort kennt man vielleicht den bisherigen Hilfe-Verlauf des Kindes nicht und hat auch keine Vorstellung davon, wie viele Hilfen schon vorangegangen sind.

Stefan Rücker, Kinderpsychologe
Stefan Rücker, Kinderpsychologe
Quelle: ZDF

Dann vollzieht sich diese Entwicklung weiter, ohne dass jemand einen Blick darauf hat, dass es schon eine ganze Kette an Hilfestellungen im Vorfeld gab. Wenn man es schaffen kann, ein Dokumentationssystem zu erzeugen, das eben solche Verläufe frühzeitig erkennt - dann wäre schon viel Wertvolles getan.

ZDF: Wie sollte ihrer Meinung nach mit dem Kontakt der Kinder zu ihren leiblichen Eltern umgegangen werden?

Stefan Rücker: Ich sage, wenn Eltern ihre Kinder wiederholt enttäuschen oder vielleicht ihren Kindern auch Versprechungen machen, die sie nicht einhalten können, belastet das die Kinder viel mehr, als dass es den Kindern hilft, wenn sich die Eltern zeigen. Vor dem Hintergrund plädiere ich sogar für eine Unterbrechung des Kontakts, bis die Eltern gelernt haben, wie sie sich den Kindern gegenüber verhalten, ohne sie zu schädigen.

Manche Eltern sind nicht zumutbar. Manche Eltern können sie Kindern nicht zumuten. Da ist die Unterbrechung das kleinere Übel. Sicherlich ist es schön, wenn Eltern und Kinder zusammen sein können, aber oft sind eben wie gesagt, die Bedingungen so ungünstig, dass die Eltern einen so starken, schadhaften Einfluss haben, dass die Unterbrechung des Kontakts das kleinere Übel ist. Es gibt da nicht die gute Lösung. Es gibt da nicht den besten Weg, sondern wir finden in diesem Bereich immer nur das kleinere Übel.

Biographien:

Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik und lehrt an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf. Er plädiert für mehr maßgeschneiderte Hilfen, um einen besseren Umgang mit Systemsprengern zu gewährleisten. Seine Frau Astrid Baumann leitet in Ostfriesland eine Intensivwohngruppe mit einer vergleichsweise hohen Mitarbeiterausstattung.

Dr. Stefan Rücker ist Kinderpsychologe und Leiter der Forschungsgruppe Petra, einem Verbundsystem von Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe, und der Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen. Er berät Jugendämter und Heime bei besonders schwierigen Kindern.

Hier geht es zur kompletten Doku „Schrei nach Liebe“:

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