Die indische Linguistin Prof. Anvita Abbi hält die wehrhaften Insulaner nicht für aggressiver als andere Völker und wendet sich gegen den modernen Mythos vom „gefährlichsten Volk der Welt“:
Ich wurde oft gefragt, ob die Sentinelesen besonders feindselig sind. Aber ich glaube, diese Behauptung ist eine Fehlinterpretation. Zum Beispiel im Fall von John Allen Chau: Der 26-jährige amerikanische Adventure-Blogger kam im November 2018 illegal auf die Insel North Sentinel. Er betrachtete sich selbst als Missionar und versuchte, die Sentinelesen zum Christentum zu bekehren. Die Inselbewohner töteten und begruben ihn. Das sind Fakten, aber natürlich nicht die ganze Geschichte.
Als die Sentinelesen Chau zum ersten Mal sahen, hätten sie ihn sofort töten können, aber sie haben ihn nicht einmal berührt. Ein zehnjähriger Junge schoss schließlich auf ihn und traf ihn an der Schulter. Ob einer der Erwachsenen einen Befehl gegeben oder ob der Junge selbst beschlossen hatte, den Fremden in die Flucht zu schlagen, bleibt unklar. Auf jeden Fall hätte dieser Warnschuss für Herrn Chau ein deutlicher Hinweis sein sollen wegzugehen und die Sentinelesen auf ihrer Insel in Ruhe zu lassen. Aber er verstand es nicht und kam zurück. Ich glaube, man kann das nur als stur bezeichnen. Die Sentinelesen sind im Grunde nicht übermäßig feindselig. Sie verhalten sich wie jeder von uns, wenn jemand ohne Erlaubnis in unser Haus eindringt. Natürlich handelt jeder von uns „feindselig“, wenn wir einen Eindringling in unserem Haus erwischen. Wir versuchen, ihn zu verscheuchen. Und genau das haben die Sentinelesen auch versucht, denn die kleine Insel ist quasi ihr Haus.
Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Sentinelesen seit 50.000 Jahren gegen alle Widerstände auf ihrer Insel überlebt haben, ihr Überlebensinstinkt ist viel ausgeprägter als unserer. Man weiß heute, dass der Überlebensquotient für solche isoliert lebenden Völker, von denen es nur noch einige hundert gibt, direkt mit der Anzahl der Kontakte zur Außenwelt verknüpft ist. Je höher die Zahl der Kontakte, desto niedriger ist die Überlebensrate. Gebildete Menschen, wie auch John Allen Chau einer gewesen ist, sollten begreifen, dass vor allem die Sentinelesen in dem Moment, in dem sie mit uns in Kontakt kommen, in großer Gefahr sind. Erstens sind sie nicht immun gegen die Art von Krankheiten, die wir übertragen. Sie werden also in der Regel an diesen Krankheiten sterben.
Zweitens wird sich auch für die Überlebenden bei wiederholten Zusammentreffen mit der Außenwelt einfach alles ändern. Wann immer indigene Völker in der Vergangenheit in Kontakt mit der Zivilisation getreten sind, führte man sie als erstes in alle unsere Laster ein. Wir lehrten sie Alkohol und Tabak zu konsumieren. Es folgten sexuelle Übergriffe, Beschlagnahmung von Land, Abholzung der Wälder, die ihre Lebensgrundlage bilden, und viele andere zerstörerische Effekte. Deshalb sollte meiner Meinung nach möglichst kein Kontakt zwischen den Sentinelesen und der Außenwelt hergestellt werden. Und bei all den Völkern, wo das schon geschehen ist, sollte er so minimal wie möglich bleiben.
Ich habe viele Jahre unter anderen Stämmen desselben Archipels gearbeitet und bis heute denke ich, dass sie in vielerlei Hinsicht viel fortschrittlicher sind als wir. Sie haben zwar nicht das, was wir unter „Bildung“ verstehen, sind aber sehr gut ausgebildet. Sie wissen so viel über Navigation auf dem Meer und Orientierung im dichtesten Dschungel. Sie wissen, wie man bei Naturkatastrophen überlebt, zum Beispiel bei einem Tsunami. Dennoch kommen Regierungsbeamte und die so genannten Intellektuellen immer wieder einmal auf die Idee, die indigenen Völker von North Sentinel und den Nachbarinseln zu „zivilisieren“. Aber das ist derselbe Fehler, den schon die Briten im 18. und 19. Jahrhundert machten, als sie dachten, sie würden die Sentinelesen und andere "zähmen" können. Ohne zu ahnen, dass deren Zivilisation in mancherlei Hinsicht vielleicht viel fortschrittlicher war, als ihre eigene. Nur weil die Sentinelesen nicht essen, was wir essen, oder sich nicht so kleiden wollen, wie wir uns kleiden - das bedeutet nicht, dass sie nicht zivilisiert sind. Diese Haltung deutet einfach auf mangelndes Wissen hin.
Ich verbrachte einige Jahre in sehr intensivem Kontakt mit einem anderen Volk desselben Archipels, den Groß-Andamanern. Diese Menschen wurden von der modernen Gesellschaft "integriert". Das bedeutet de facto, dass ihre gesamte Kultur und ihre Sprache ausgelöscht wird. Die Groß-Andamaner gehen auch nicht mehr ihren traditionellen Beschäftigungen nach, wie etwa die Jagd auf dem Meer oder die Jagd im Wald. Ich wette, es gibt keinen einzigen Jugendlichen, der auch nur ein traditionelles Boot fahren könnte. Sie haben die Kunst des Jagens verloren. Sie können keine Bögen und Pfeile mehr herstellen. Sie haben ihre Sprache und ihre Lieder vergessen, die ein wichtiger Teil ihrer Kultur waren. Und sie können auch nicht mehr die Geschichte ihres Volkes erzählen. Mittlerweile gibt es nur noch vier oder fünf Sprecher, und diese wenigen Menschen kommunizieren untereinander nicht mehr in ihrer eigenen Sprache, weil es sich nicht lohnt. Bald werden sie alles vergessen haben oder sterben. Ihre Sprache ist praktisch schon jetzt nicht mehr existent. Ich kann es kaum fassen, dass während ich als Sprachwissenschaftlerin arbeite, das Objekt meiner Forschung einfach verschwindet und ein ganzes Volk während meiner Lebenszeit einfach ausstirbt. Vielleicht ist die konsequente Kontaktverweigerung die einzige Chance für die Sentinelesen zu überleben.
Von Anvita Abbi
Professor Anvita Abbi ist eine indische Linguistin und Expertin für Minderheitensprachen. Bekannt wurde sie für ihre Studien über die Sprachen der Minderheiten in Südasien. Die indische Regierung ehrte sie 2013 für ihre Verdienste auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft mit dem Padma Shri, einer hohen zivilen Auszeichnung Indiens. Die Linguistic Society of America verlieh ihr 2015 den prestigeträchtigen Kenneth Hale Award "für herausragende lebenslange Beiträge zur Dokumentation und Beschreibung der Sprachen Indiens, insbesondere für ihre außergewöhnlichen Beiträge zur Dokumentation der Sprache der Groß-Andamaner, einer sterbenden Sprache, die ein Schlüssel zum Verständnis der Besiedelung Asiens und Ozeaniens ist".
Bildquelle: ZDF