Experte zu Nahost: Zwei-Staaten-Lösung unrealistisch

    Interview

    Eskalation in Nahost:Experte: Zwei-Staaten-Lösung unrealistisch

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    Justizreform und Militäraktion - Israel vor der Zerreißprobe? Julius von Freytag-Loringhoven (FDP) bewertet im Interview mit dem ZDFheute journal update die aktuelle Lage.

    SGS Experte Naumann-Stiftung
    Sehen Sie hier das Interview mit Julius von Freytag-Loringhoven in voller Länge.05.07.2023 | 4:32 min
    Israel sieht sich einem beispiellosen innenpolitischen Konflikt ausgesetzt. Die Justizreform ist eine Zerreißprobe für Staat und Gesellschaft. Gleichzeitig attackiert die israelische Armee Ziele im Palästinensergebiet. Die Militäraktion ist die umfangreichste der jüngsten Zeit.
    Julius von Freytag-Loringhoven (FDP) von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem bewertet im Interview mit dem ZDFheute journal update die aktuelle Lage in Nahost.
    ZDF: Warum führt die Netanjahu-Regierung diese Militäroffensive im Westjordanland genau jetzt durch? 
    Julius von Freytag-Loringhoven: Also sie sagt natürlich, dass die Offensive seit Monaten vorbereitet war. Und deswegen werden gerade jetzt vor allem Erfolgsmeldungen vermeldet von der israelischen Regierungsseite, dass man Tausende von Bomben sichergestellt, Waffenlager zerstört hat.

    Natürlich kommt es der Regierung sehr gelegen, weil in Wirklichkeit ist die Bevölkerung sehr gespalten.

    Julius von Freytag-Loringhoven

    In so einer Konfliktsituation, wenn es um den Kampf gegen den Terror geht, scheint eine Mehrheit der Bevölkerung auf Regierungsseite zu sein. In Wirklichkeit ist sie es gar nicht mehr.  
    Dschenin, 03.07.2023: Palästinenser laufen durch zerstörte Straßen in Dschenin.
    Israel hat im Westjordanland einen der größten Militär-Einsätze der vergangenen Jahre gestartet. Umkämpft ist die Stadt Dschenin - sie gilt als Hochburg militanter Palästinenser.03.07.2023 | 2:01 min
    ZDF: Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Sachen Justizreform? 
    Von Freytag-Loringhoven: Da wird Netanjahu von der Opposition - der liberale Oppositionsführer Jair Lapid hat es sehr deutlich gesagt - infame Taktik vorgeworfen.

    Denn es waren die Proteste von Hunderttausenden auf der Straße, die im Grunde am Ende zu Netanjahus Einlenken geführt haben.

    Julius von Freytag-Loringhoven

    Diese Hunderttausende muss man sich übersetzen nach Deutschland.
    Denn in Deutschland, bei einer zehnfach größeren Bevölkerung, wäre das so, als wenn hier Millionen von Menschen demonstrieren. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße haben in der Bundesrepublik noch nie so viele demonstriert. Das heißt: da ist eine gewaltige Kraft in der Zivilgesellschaft entstanden, die gesagt haben, diese Justizreform gefährdet den liberalen Kern der Demokratie.
    Netanjahu versucht das genau nächste Woche mit einem Antrag, wo es in einem kleinen technischen Detail darum geht, am Ende die Gerichte überstimmen zu können. 
    Israelische Polizisten drücken einen Demonstranten auf einer Autobahn zu Boden und nehmen ihn fest.
    In Israel sind erneut Tausende Menschen gegen die von der rechtsgerichteten Regierung geplante Justizreform auf die Straße gegangen. Die Proteste halten seit einem halben Jahr an.02.07.2023 | 0:22 min
    ZDF: Werden die Palästinenser ohne Staat bleiben?  
    Von Freytag-Loringhoven: Die Palästinenser schauen natürlich auch auf die Justizreform, weil in der aktuellen Lage schwindet das Vertrauen der Palästinenser in ihre eigene Führung, die palästinensische Autonomiebehörde. Das führt unter anderem dazu, dass sich immer mehr Jugendliche bewaffnen. Der Grund für die Anti-Terror-Aktion der israelischen Seite liegt auch mit darin begründet.
    Zum anderen ist da natürlich die Hoffnung, dass man in einem gemeinsamen Staat leben könnte, auch dadurch massiv gestört, weil man das Gefühl hat, dass Menschenrechte und der Schutz durch Gerichte - was eigentlich Israel der palästinensischen Autonomiebehörde voraus hat - eingeschränkt werden.
    Auf der anderen Seite ist die Zwei-Staaten-Lösung natürlich immer noch unser Credo als Deutsche, weil wir hoffen, dass diese zwei Völker friedlich miteinander in eigenen Staaten leben können.
      

    In Wirklichkeit ist das aber leider keine realistische Perspektive im Moment. Eine Ein-Staaten-Realität wäre aber noch unrealistischer.

    Julius von Freytag-Loringhoven

    Ein Mann schwenkt eine palästinensische Flagge in den Straßen von Dschenin, 04.07.2023.
    Aus Sicht Israels ist die Stadt im Westjordanland eine Hochburg militanter Palästinenser. Aus Rache für den Militäreinsatz verletzte ein Hamas-Mitglied Passanten in Tel Aviv.04.07.2023 | 3:02 min
    ZDF: Kann es überhaupt eine friedliche Koexistenz der Religionen und der Völker in Israel geben?  
    Von Freytag-Loringhoven: Die kann es natürlich geben, aber dafür müssen die Konflikte dahinter gelöst werden. Gleichzeitig ist es nicht die Religion allein, die den Konflikt schafft, sondern es sind politische Konflikte. Und die Mehrheit der Bevölkerung lebt friedlich miteinander. 
    Quelle: ZDF

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