Adoptiert: Ruby und ihre zwei Mütter

Über sechs Jahre begleite ich Ruby nun schon. 2016 hat sie im Alter von 17 Jahren zum ersten Mal ihre leibliche Mutter in Nepal getroffen. Auf dieser Reise haben wir sie mit einem 37 Grad-Kamerateam begleitet. Was Ruby schon immer gespürt hat: Ihre Mutter wollte sie gar nicht zur Adoption freigeben und die Familie in Nepal hat lange nach ihr gesucht. Als die Adoptiveltern nach Ruby’s Rückkehr erfuhren, dass die ‚Rettung‘ aus dem Waisenhaus eine Art ‚Kindesraub‘ war, sind sie geschockt.

Ich bin selbst Adoptivmutter einer 23jährigen Tochter aus Nepal und habe in der Vergangenheit zahlreiche Adoptivfamilien kennengelernt und viele Gespräche mit Adoptierten, Adoptiveltern und Herkunftsmüttern geführt. Jede Geschichte ist anders, und alle gehen unterschiedlich damit um. Ruby war schon 3 Jahre alt, als sie nach Deutschland kam und ihre Adoptiveltern sind immer sehr offen und ehrlich mit der Geschichte ihrer Tochter um gegangen. Trotz vieler Versuche mehr über die Hintergründe zu erfahren, ließ sich bis heute nicht klären, wie es in Nepal zu dieser ungewollten Adoption kommen konnte. Aufgrund der vorliegenden Papiere waren Rubys Adoptiveltern immer überzeugt legal adoptiert zu haben.

Anfang 2022 erzählt mir Ruby von ihrem großen Wunsch, dass sich ihre beiden Mütter endlich kennenlernen. Für Ruby geht es um die Suche nach Identität, die Auseinandersetzung mit ihren brüchigen Familienverhältnissen. Seit sich ihre Adoptiveltern vor Jahren scheiden ließen, wurde nicht nur der Wunsch ihre Familie in Nepal näher kennenzulernen immer größer. Nun möchte sie unbedingt ihre beiden Mütter zusammenbringen. Im Interview sagt sie „Von der Begegnung meiner beiden Mütter erhoffe ich mir, dass jedes ungute Gefühl, das vielleicht noch irgendwo schlummert weg ist, und das Treffen beide stärkt“. Ihre Adoptivmutter Birgit kann den Wunsch ihrer Tochter gut verstehen. Trotzdem ist sie zwiegespalten. Seit sie weiß, dass die Adoption nicht gewollt war, plagen sie Schuldgefühle und Selbstzweifel. Immer wieder versucht sie sich vorzustellen, wie die Begegnung mit der Frau, die ihre Tochter in Nepal zur Welt gebracht hat, wohl ablaufen könnte. Was vor sechs Jahren für Ruby eine riesige emotionale Herausforderung war, ist nun für Birgit kaum vorstellbar. Wie soll sie sich mit Rubys nepalesischer Mutter unterhalten? Und was soll sie ihr sagen?

Die Tatsache, dass ich mit meinem Kamerateam dabei bin, beruhigt Birgit ein wenig und es dauert nicht lange, bis wir alle in Nepals Hauptstadt Kathmandu angekommen sind. Was nun folgt ist eine Zeit voller Emotionen. Mit jedem Tag entwickelt sich mehr Nähe zwischen den beiden Müttern, die sehr herzlich miteinander umgehen. Ruby genießt das Zusammensein mit ihren zwei Müttern in vollen Zügen. Eine Drehreise mit vielen berührenden und bewegenden Momenten, wenn die beiden Mütter sich mit jedem Tag besser kennenlernen. Immer wieder laufen Tränen, und am Ende zeigen sich beide voller gegenseitiger Dankbarkeit.

Kurz vor der Abreise dann die große Überraschung für uns alle: Ruby entscheidet sich, bis auf Weiteres in Nepal zu bleiben. Sie will tiefer in die Kultur Nepals eintauchen und fühlt sich schon ein wenig wie zuhause. Viele ihrer nepalesischen Familienmitglieder kennt sie noch nicht, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Und auch mit ihren Geschwistern möchte sie mehr Zeit verbringen. Die Dreharbeiten entwickeln sich in eine ungeahnte Richtung, und Birgit steht vor der nächsten großen emotionalen Herausforderung. Sie muss sich von Ruby verabschieden und weiß nicht, wann sie ihre Tochter wiedersehen wird.

Sechs Wochen später bin ich noch einmal in Nepal und besuche Ruby. Es geht ihr sehr gut. Sie hat sich ein Zimmer gemietet, wohnt im Haus eines Freundes, lernt die Sprache und erlebt täglich Neues. Ihren Rückflug hat sie erst einmal auf Ende April 2023 gelegt. Ein halbes Jahr also noch, und ich muss an eine Aussage von Birgit im Interview denken: „Manchmal fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass Ruby noch eine Suchende ist. Das verunsichert mich.“

Ruby ist eine starke junge Frau, und ich bewundere ihren Mut und ihre Kraft, sich ihrer Geschichte zu stellen. Aber es ist eine Herausforderung für alle Beteiligten. Ich bin dankbar für das große Vertrauen, das mir Ruby, ihre Adoptiveltern und die nepalesische Familie entgegengebracht und tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt gewährt haben.