Kriminelle veranlassen massenweise Fake-Notrufe über App

    Staatliche App sorgt für Chaos:Massenweise Fake-Notrufe mit "Nora"

    Oliver Klein
    von Oliver Klein
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    Täter missbrauchen massenweise eine staatlich finanzierte Notruf-App, hetzen ihren Opfern Feuerwehr und Polizei auf den Hals. ZDFheute hat mit einem Swatting-Opfer gesprochen.

    Die Notruf-App Nora ist auf dem Display eines Mobiltelefones zu sehen.
    Die Notruf-App "Nora" - beliebtes Werkzeug für Fake-Notrufe.
    Quelle: dpa

    Im Mai ging es bei Marco B. (Name von der Redaktion geändert) los. "Plötzlich stand eine Armada von Polizisten mit gezogenen Waffen bei mir im Wohnzimmer", erinnert er sich. Jemand hatte über die Notruf-App "Nora" eine bewaffnete Geiselnahme an seiner Adresse gemeldet.
    Es war erst der Anfang. Alle etwa drei bis fünf Wochen folgten weitere Einsätze: Regelmäßig raste die Feuerwehr mit Blaulicht heran, weil angeblich Gasgeruch im Keller festgestellt wurde - dabei gibt es im Haus nicht einmal einen Gasanschluss. Marco B. hat zwar einen konkreten Verdacht, wer der Täter sein könnte, vermutet Rache als Motiv. Doch die Ermittlungen der Polizei ziehen sich hin.

    Diese willkürlichen Einsätze nagen echt an uns. Wir fühlen uns der App ausgeliefert.

    Marco B., Opfer von Fake-Notrufen

    Notruf-Missbrauch mit Nora nimmt zu

    Die Einsätze bei Marco B. sind keine Einzelfälle. Immer öfter nutzen Täter die Nora-App für das sogenannte Swatting: Sie täuschen einen Notfall vor, schicken ohnehin überlastete Rettungskräfte und Polizei zu ihren nichts ahnenden Opfern.

    Die Nora-App wurde vor allem für Menschen mit Hör- und Sprachbehinderungen programmiert, das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen hatte das bundesweite Projekt federführend übernommen. Der letzte Jahresbericht beziffert die bisherigen Kosten für Entwicklung und Betrieb auf 9,4 Millionen Euro, allein bis September 2022.

    Die App ist seit September 2021 am Start. Inzwischen gibt es nach Angaben des Innenministeriums rund eine halbe Million Registrierungen, über 20.000 Notrufe wurden deutschlandweit über Nora abgesetzt.

    Erst diese Woche wurde bekannt, dass in Rheinland-Pfalz und mindestens fünf anderen Bundesländern so mehrfach Notlagen von Landespolitikern vorgetäuscht wurden: Allein seit Ende August seien der Polizei in Rheinland-Pfalz 22 solcher fingierter Gefahrenlagen bekannt geworden, berichtet der rheinland-pfälzische Innenminister Michael Ebling.
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    Hoher Anteil von Fake-Notrufen bei "Nora"

    Etwa zwölf Prozent der Notrufe, die über die App abgesetzt werden, wurden zuletzt von den Einsatzleitstellen als "Verstöße gegen die Nutzungsbedingungen" markiert, erklärt eine Sprecherin des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen auf Anfrage von ZDFheute. In sieben Prozent der Nora-Notrufe gab es demnach einen konkreten Verdacht auf Missbrauch, der ein Auskunftsersuchen beim App-Betreiber zur Folge hatte.
    Das Phänomen Swatting stammt ursprünglich aus den USA - abgeleitet vom Namen der Polizei-Sondereinheit "Special Weapons and Tactics", kurz SWAT. Viele der Auskunftsersuchen stehen in Verbindung zu Swatting-Vorfällen bei Online-Streamern, heißt es aus Ermittlerkreisen. Gamer sind beliebte Opfer, wenn sie gerade live im Internet auf Sendung sind. Videos solcher Einsätze in den USA werden im Internet millionenfach angeklickt. Das Motiv der Täter: Langeweile oder Rache.
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    Nora-Täter nur schwer zu fassen

    Die Täter sind nur schwer zu fassen - denn mit einfachen Tricks lässt sich die "Nora"-App praktisch anonym nutzen. Nach der Installation muss lediglich eine funktionierende Handynummer eingegeben werden, auf die "Nora" dann eine SMS mit einem Zahlencode schickt. Doch die Täter können diese Art der Verifizierung mit nur wenig krimineller Energie umgehen.

    Betreiber sperren Nutzer bei Missbrauch

    Die App-Betreiber versuchen dagegen vorzugehen: Die Nutzung von "unechten" Rufnummern würde laufend eingeschränkt, um das Umgehen der SMS-Registrierung zu erschweren, heißt es.

    Auffällige Apps und Rufnummern werden sofort gesperrt.

    Sprecherin des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen

    Die Betreiber stecken in einem Dilemma: Natürlich ließe sich das Verfahren bei der Anmeldung sicherer gestalten, beispielsweise über Videoidentifikation, wie es beispielsweise bei vielen Banken zur Kontoeröffnung üblich ist.
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    App-Nutzung soll bewusst "niedrigschwellig" sein

    Das jedoch widerspricht dem Grundgedanken der App: Sie soll einen niedrigschwelligen Zugang zum Notruf für Menschen mit Behinderung gewährleisten, ähnlich wie der Sprachnotruf. Damit folge man auch entsprechenden EU-Vorgaben, heißt es vom NRW-Innenministerium. Denn auch der Sprachnotruf sei "bekanntermaßen ohne Zugangsbeschränkung und Registrierung nurtzbar".
    Doch der Vergleich hinkt: Der Sprachnotruf ist eben nicht anonym, die Telefonnummer des Anrufers wird übermittelt und lässt sich in der Regel zurückverfolgen und auch die Stimme ist ein Identifizierungsmerkmal - die Hürde für einen Missbrauch also deutlich höher als bei "Nora".
    Für den Missbrauch von Notrufen sieht das Strafgesetzbuch eine Geldstrafe oder eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr vor, für das Vortäuschen einer Straftat können sogar bis zu drei Jahre Haft verhängt werden. Marco B. hofft immer noch, dass die Polizei den Täter bald ermittelt, der ihm mit Fake-Notrufen das Leben schwer macht. So lange muss die Familie mit der ständigen Angst vor dem nächsten Einsatz leben.

    Wenn man zuhause ist, Blaulicht sieht oder eine Sirene hört, denkt man sofort: Jetzt geht es wieder los.

    Marco B., Opfer von Fake-Notrufen

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