Antakya: "Aus der Familie hat es keiner geschafft"

    Antakya nach dem Erdbeben:"Aus dieser Familie hat es keiner geschafft"

    von Britta Jäger
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    Die türkische Stadt Antakya wurde durch das Erdbeben fast völlig zerstört. Noch immer werden Leichen geborgen. Zusätzlich zu all dem Leid, erhöht sich nun die Seuchengefahr.

    Antakya nach dem Erdbeben
    Antakya nach dem Erdbeben in der Türkei: Die Hilfe für die Betroffenen lief erst spät an.
    Quelle: EPA/MARTIN DIVISEK

    Ganz früh am Morgen machen wir uns auf den Weg - von der Großstadt Adana in den Ort, von dem nach dem Erdbeben fast nichts mehr übrig ist. Etwa drei Stunden ist nun Zeit, darüber nachzudenken, was uns nach den ersten Bildern in Fernsehen und Internet wohl tatsächlich in Antakya erwartet.
    Es geht nach Süden, hinein in die Provinz Hatay, vorbei an dem ebenfalls stark betroffenen Iskenderun, auf eine Autobahn zwischen Bergen und Küste - es ist fast idyllisch.

    Antakya bekam erst spät Hilfe

    In den ersten Tagen nach den Beben war die Provinz Hatay mit ihrer Hauptstadt Antakya medial besonders in den Blick gerückt. Hier lief die Hilfe für die Betroffenen besonders spät an. Ob die Regierung die Region wegen ihrer vielen Minderheiten bewusst benachteiligt hatte oder ob die logistischen Herausforderungen einfach zu groß waren – daran scheiden sich in der Türkei die Geister.   
    300 Stunden überlebten sie unter den Trümmern: Fast zwei Wochen nach dem Beben konnten in Antakya drei Überlebende gerettet werden:
    Irgendwann nimmt unser Fahrer das Tempo raus, wir sind am Ortseingang angekommen. Je näher das Stadtzentrum rückt, desto häufiger heulen die Sirenen der Krankenwagen, Last- und Leichenwagen drängen sich aneinander vorbei und die Luft wird immer staubiger. Die Cumhuriyet Caddesi, eine der größeren Straßen Richtung Altstadt, ist überwiegend freigeräumt, doch rechts und links türmen sich die Trümmerberge.
    Und in den Häusern in starker Schieflage zeigen die herausgebrochenen Wände, wie die Menschen hier früher gelebt haben: Ein Sofa mit Leopardenmuster, ein Kühlschrank, die Kronleuchter hängen noch.
    ein zerstörtes Haus in Antakya, Blick in noch eingerichtete Zimmer
    Das Erdbeben hat die Außenwand eines Hauses in Antakya abgerissen - Kronleuchter hängen noch an der Decke, Couch und Tisch stehen noch im Zimmer
    Quelle: Britta Jäger

    Die Menschen suchen nach ihren Angehörigen

    Wir lassen das Auto stehen. An einem großen Schutthaufen, in dem die Bagger dröhnend wühlen, gestikuliert eine ältere Frau in Richtung eines Suchtrupps. "Können Sie vorsichtiger sein?". Die meisten hier haben die Hoffnung, ihre Angehörigen lebend wiederzusehen, zwar aufgegeben. Jetzt aber soll schweres Gerät bitte die Toten wenigstens nicht zermalmen.
    Ein Mann sitzt mit leerem Blick am Straßenrand, ohne Kraft für eine Debatte. Er glaubt nicht daran, seine Familie lebend wiederzusehen.

    Wenn sie die Leichen meiner Frau und den Kindern rausholen, bringe ich sie zurück nach Syrien – in die alte Heimat.

    Bewohner in Antakya

    Leichen kommen in Massengrab am Stadtrand

    Die Toten, die nicht sofort identifiziert werden, bringen die Leichenwagen in ein Massengrab am Stadtrand. Nur über gespeicherte DNA-Proben lässt sich später noch feststellen, wer hier liegt. Auch deshalb harren so viele noch auf der Straße aus – sie wollen eine würdevolle Beerdigung für die, die sie lieben.
    Im Ortskern sind einige Straßen noch immer unter Trümmerhaufen begraben. Also bahnen sich Helfer in weißen Anzügen und Schutzmasken ihren Weg über die Steine. Wenn sie kommen, bedeutet das: Eine Leiche wurde gefunden. Dieses Mal ist es ein Kind, die Beine sind zu sehen. Die Männer bedecken den unteren Körperteil des Mädchens mit einer Decke, dann schneiden sie den Rest behutsam aus den Steinen frei, der schwarze Leichensack liegt schon bereit. Drumherum hat sich eine kleine Menschentraube versammelt. Ein Mann tritt nach vorn. Er scheint das Mädchen zu kennen.

    Aus dieser Familie hat es keiner geschafft, sie ist die erste, die sie rausholen.

    Anwohner in Antakya

    Dann wirft der Baggerfahrer wieder seinen Motor an.

    Die Seuchengefahr wächst, viele Menschen fliehen

    Beinahe an jeder Ecke des Stadtkerns sammeln sie nun Leichen ein. Keiner weiß, wie viele sie noch rausholen müssen. Trotz des kühlen Wetters hat die Verwesung der Toten bereits eingesetzt. Sie verschmutzen - zusammen mit Fäkalien und Müll - immer mehr das Grundwasser. Zusätzlich zu all dem Leid erhöht sich nun auch noch die Seuchengefahr.
    Etwas außerhalb des Stadtkerns fahren Busse nach Izmir, Mersin oder Konya. Der Ansturm der ersten Tage hat sich etwas gelegt, aber noch immer sind alle Sitzplätze voll. Auf einem sitzt Eren. Er liebte die Schule, will einmal Arzt werden und glaubt, dass er sein altes Zuhause in nicht allzu ferner Zukunft wiedersieht: "Hier in Antakya ist alles, was ich liebe. Und ich denke, dass wir das alles hier schnell wieder aufbauen werden". Ein 14-Jähriger, der glauben will, dass alles wieder so wie früher werden kann.

    "Katastrophe in Wahrheit noch viel schlimmer"

    Bevor die Sonne untergeht, fahren auch wir wieder zurück. Mit schwerem Herzen und Eindrücken im Kopf, die wohl kein Fernsehbericht und kein Internetvideo in warme Wohnungen transportieren kann. Denn erst der eigene Blick in die leeren Augen der Menschen, der Leichengeruch in der Nase und der Staub in den Haaren ließen uns verstehen, dass diese Katastrophe in Wahrheit noch viel schlimmer ist.

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