Migranten-Bootstragödie: Familien warten in Ungewissheit

    Nach Bootstragödie um Migranten:Quälendes Warten für Geflüchteten-Familien

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    Die Familien der vermissten Migranten, die auf dem vor Griechenland gekenterten Schiff waren, warten in quälender Ungewissheit auf Lebenszeichen. In Ägypten weint ein ganzes Dorf.

    Der 18-jährige syrische Überlebende Mohammad umarmt seinen Bruder Fadi, aufgenommen am 16.06.2023
    Zwei Brüder umarmen sich nach dem Bootsunglück vor Griechenland.
    Quelle: Reuters

    Als Sabah Abd Rabu Hussein zuletzt von ihrem Sohn hörte, plante er, in ein Boot zu steigen, das ihn von Libyen aus nach Europa bringen sollte. Das war vor gut zwei Wochen. "Ich hatte ihn gebeten, nicht zu gehen", sagt die ägyptische Hausfrau. "Aber er war unsere schwierigen Lebensbedingungen leid."
    Der 18-jährige Jahia Saleh befand sich an Bord des alten Fischkutters, der am 9. Juni in der ostlibyschen Stadt Tobruk in See gestochen war. Er wollte nach Italien, wie viele andere junge Männer in seinem Heimatdorf im ägyptischen Nildelta.

    Chance verschwindend gering, noch Überlebende zu finden

    Bis zu 750 Migranten, darunter Frauen und Kinder, waren auf dem Boot, das vor Südwestgriechenland kenterte und sank, in einem der tiefsten Abschnitte des Mittelmeeres. Nur 104 Menschen wurden lebend aus dem Wasser gezogen und bis Dienstag 82 Leichen geborgen. Die Chancen, jetzt noch Überlebende zu finden, sind verschwindend gering.
    Zwei Syrische Brüder wiedervereint nach Bootsunglück vor griechischer Küste
    Die Suche nach dem Schuldigen beginnt: Regierung, Opposition und Küstenwache schieben sich gegenseitig die Schuld zu. 16.06.2023 | 1:52 min
    Damit ist die Schiffskatastrophe eine der schlimmsten Tragödien im Mittelmeer in der jüngeren Geschichte, und es hat viele Fragen aufgeworfen und Empörung über den Umgang europäischer Stellen mit dem Zulauf von Migranten ausgelöst.

    Viele bei der Flucht festgenommen und zurückgeschickt

    Wie viele andere Familien wissen Salehs Angehörige nicht, was mit ihrem Lieben geschehen ist. Die Familie ist in Ibrasch beheimatet, in der landwirtschaftlichen Provinz Scharkia im Nildelta, wo sich Wasserbüffel, Kühe und Esel die ungepflasterten Straßen mit Autos, Autorikschas und Motorrädern teilen.
    Viele der jungen Männer und Teenager in der Region haben die gefährliche Reise nach Libyen gewagt, in der Hoffnung, dann auf dem Weg über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Manche haben es nach Italien geschafft, aber zahlreiche andere wurden in Gewahrsam genommen und zurückgeschickt, wie fünf Dorfbewohner sagen. Sie alle wollen ihren Namen nicht genannt haben, aus Furcht, dass die Behörden sie ins Visier nehmen.

    Sechs Vermisste nur aus einem Dorf

    Ägypten, mit 105 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste arabische Land, hat seine maritimen Grenzen für Migrantenboote abgeriegelt, nachdem es 2016 vor der Mittelmeerstadt Rossetta zu einem tödlichen Unglück gekommen war. Die Regierung versucht, junge Männer von illegaler Migration abzubringen, aber die Wirtschaftskrise im Land hat viele motiviert, den Versuch zu wagen - trotz der Gefahren.
    Rettungssanitäter transportieren einen Überlebenden des Bootsunglückes bei Griechenland auf einer Trage.
    Bei dem schweren Bootsunglück vor Griechenland könnten mehr als 500 Migranten gestorben sein, so die Behörden. Trotz wenig Hoffnung läuft die Suche nach Überlebenden weiter. 15.06.2023 | 0:20 min
    Die ägyptische Botschaft in Athen sprach am Wochenende von insgesamt 43 Ägyptern, die das Unglück überlebt haben, darunter - so weit man weiß - sechs aus Salehs Heimatort, wie Verwandte sagen. "Unser Dorf ist verwundet", sagt Einwohner Sameh el-Gamal.

    Es ist eine Katastrophe. Jede Familie hat eine Beerdigung.

    Sameh el-Gamal, Einwohner eines ägyptischen Dorfes mit vielen Opfern

    Sechs Monate lang hatten Salehs Eltern versucht, ihm die Reisepläne auszureden. Aber er wurde zunehmend entschlossen, als sich die Lebensbedingungen der Familie verschlechterten. Saleh half seinem Vater dabei, die Felder des kleinen Bauernhofes zu bewirtschaften und arbeitete manchmal auch als Tagelöhner, verdiente umgerechnet etwa 55 Euro im Monat. "Er wollte uns helfen", sagt Hussein, seine Mutter.

    Sohn verabschiedete sich - ohne zu sagen, wohin er geht

    An einem Abend Mitte Mai verabschiedete er sich von seiner Mutter, ohne ihr zu sagen, wohin er gehen wollte. Sie dachte, er würde seinen Abend mit Freunden verbringen.

    Er hat mir einen Kuss auf die Stirn gegeben, als ob er wusste, dass es das letzte mal war, dass er mich sehen würde.

    Sabah Abd Rabu Hussein, Mutter von einem der Opfer

    Einen Tag später fanden die Eltern heraus, dass er sich mit seinem Cousin und vier anderen Männern auf den Weg nach Libyen gemacht hatte. Sein Vater und andere Verwandte setzten sich in panischer Angst mit in Libyen lebenden Landsleuten in Verbindung, die sie in Kontakt zu zwischen Ägypten und Libyen operierenden Menschenschmugglern brachten.
    Flüchtlingsunterkunft
    So unattraktiv wie möglich möchte sich Griechenland für Flüchtlinge machen – und hat daher ein Vorzeigelager geschlossen. 09.02.2023 | 2:13 min

    Vater bietet Schleusern Geld, dass sie den Sohn zurückschicken

    Er habe ihnen sogar umgerechnet 1.450 Euro angeboten, damit sie ihn zurückschickten, schildert der Vater. Aber sie hätten sich geweigert und ihm gesagt, dass er schleunigst die Rechnung für die Reise seines Sohnes bezahlen solle - umgerechnet mehr als 4.000 Euro, die dieser sich größtenteils geborgt hatte. Sein Vater zahlte schließlich, weil er nach eigenen Angaben fürchtete, dass sein Sohn andernfalls von den Schleppern gefoltert oder getötet würde.
    Seit dem Unglück hat die Familie verzweifelt auf eine Nachricht über Salehs Schicksal und das der anderen Dorfbewohner gewartet. Die Ungewissheit ist qualvoll. Seine Mutter bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und weint.

    Ich will meinen Sohn, ich will ihn lebend oder tot.

    Sabah Abd Rabu Hussein, Mutter von einem der Opfer

    Schiffbruch mit Hunderten Toten
    :Sank das Boot bei Abschlepp-Aktion?

    Aussagen Geretteter des Schiffsunglücks vor Griechenland widersprechen der offiziellen Behördenversion. Zudem kommen Berichte über grauenvolle Zustände an Bord ans Licht.
    von Oliver Klein
    Überlebende erhalten erste Hilfe nach einer Rettungsaktion im Hafen der Stadt Kalamata (Griechenland), aufgenommen am 14.06.2023
    Quelle: Samy Magdy, AP

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