Hunderte Migranten tot: Sank das Boot beim Abschleppen?

    Schiffbruch mit Hunderten Toten:Sank das Boot bei Abschlepp-Aktion?

    Oliver Klein
    von Oliver Klein
    |

    Aussagen Geretteter des Schiffsunglücks vor Griechenland widersprechen der offiziellen Behördenversion. Zudem kommen Berichte über grauenvolle Zustände an Bord ans Licht.

    Überlebende erhalten erste Hilfe nach einer Rettungsaktion im Hafen der Stadt Kalamata (Griechenland), aufgenommen am 14.06.2023
    Hunderte Geflüchtete starben beim Bootsunglück vor Griechenland - die Zweifel an der offiziellen Version zum Unfallhergang werden größer.
    Quelle: dpa

    Die Schiffskatastrophe vor Griechenland mit womöglich mehr als 500 ertrunkenen Geflüchteten wirft weiter drängende Fragen auf: Wer ist für den Tod der Menschen verantwortlich? Hätten sie vielleicht gerettet werden können? Neue Schilderungen von Überlebenden und Recherchen von Journalisten stellen die offizielle Version der griechischen Behörden zum Hergang des Unglücks immer mehr infrage.
    Die Küstenwache hatte erklärt, die Migranten auf dem Fischkutter hätten Hilfsangebote auf ihrem Kurs nach Italien ausgeschlagen und darauf beharrt, weiterfahren zu wollen. Es wäre viel zu gefährlich gewesen zu versuchen, Hunderte Menschen gegen ihren Willen aus einem überfüllten Schiff zu holen, so die Behörden.
    Zwei Syrische Brüder wiedervereint nach Bootsunglück vor griechischer Küste
    Die Suche nach dem Schuldigen beginnt: Regierung, Opposition und Küstenwache schieben sich gegenseitig die Schuld zu. 16.06.2023 | 1:52 min

    BBC-Recherchen widerlegen Behördenangaben

    Doch Recherchen der BBC zeichnen ein anderes Bild: Journalisten analysierten die Bewegungen von Schiffen in der Gegend mithilfe des Ortungsdienstes marinetraffic.com. Der Fischkutter selbst wird in der Website zwar nicht angezeigt - er sendete keine Ortungssignale - dafür aber Dutzende andere Schiffe in dem fraglichen Gebiet.
    Die Daten zeigen: Genau dort, wo das Migrantenboot später vermutlich sank, gab es stundenlange Aktivitäten anderer Schiffe. ZDFheute konnte die Recherchen auch mit dem Ortungsdienst shipinfo.net nachvollziehen.
    Zunächst umkreisten mindestens zwei Tanker die Stelle, nachmittags die "Lucky Sailor", am Abend die "Faithful Warrior" - offenbar, um Hilfe anzubieten. Die Daten zeigen, wie später etliche weitere Schiffe zu genau dieser Stelle eilten, um Hilfe zu leisten, als der Kutter unterging.
    Flüchtlingsunterkunft
    So unattraktiv wie möglich möchte sich Griechenland für Flüchtlinge machen – und hat daher ein Vorzeigelager geschlossen. 09.02.2023 | 2:13 min

    Fischkutter trieb offenbar stundenlang im selben Gebiet

    Das spricht dafür, dass der überfüllte Fischkutter mindestens sieben Stunden lang im selben Gebiet trieb. Und es lässt Zweifel aufkommen an der offiziellen Behauptung, das Schiff sei auf einem beständigen Kurs in Richtung Italien gewesen, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und habe keine Probleme mit der Navigation gehabt - so jedenfalls hatten es die griechischen Behörden dargestellt.
    Inzwischen spricht die Küstenwache nach Angaben von BBC-Korrespondent Nick Beake bei Twitter offenbar von einem Defekt, der das Boot zum Anhalten zwang.

    Fischkutter beim Abschleppen untergegangen?

    Auch Berichte von Überlebenden lassen Zweifel an der offiziellen Version aufkommen. Griechische Behörden behaupten, der Kutter sei nach abrupten Bewegungen zahlreicher Insassen ins Taumeln geraten und daraufhin havariert. Doch mehrere Gerettete sagten gegenüber Ermittlern offenbar übereinstimmend aus, dass der Fischkutter bei einem Abschleppversuch untergegangen sei.

    Nach Bootsunglück im Mittelmeer
    :Neun mutmaßliche Schleuser festgenommen

    Trägodie auf dem Mittelmeer: Ein Fischerboot kentert, möglicherweise sind dabei Hunderte Migranten ums Leben gekommen. Nun wurden mehrere mutmaßliche Schleuser festgenommen.
    Festnahme eines Schleusers nach Bootsunglück vor Kalamata, Griechenland
    Die Athener Zeitung "Kathimerini" zitiert die Aussage eines 23-jährigen palästinensischen Geflüchteten. Danach habe ein griechisches Schiff versucht, den Fischkutter mit einem Seil nach Griechenland zu ziehen: "Als sie Gas gaben (...), ist unser Boot gesunken", erzählt er.

    Überlebender: Menschen fielen beim Abschleppen ins Wasser

    Das bestätigt ein weiterer Überlebender, der Kurde Ali Scheichi: Eine Seite des Fischkutters sei bei der Abschlepp-Aktion hochgegangen und die Menschen seien ins Wasser gefallen. "Die Leute fingen an zu schreien." Es sei dunkel gewesen, jeder habe versucht, sich an anderen festzuhalten und diese herunterzuziehen, damit man selbst über Wasser blieb.

    Ich dachte, das wird niemand überleben.

    Ali Scheichi, Geretteter

    Griechenland, Athen: Demonstranten während einer Demonstration
    Gesucht wird zwar noch, doch mit Überlebenden rechnet man nach dem schweren Unglück vor Griechenland nicht mehr. Und so wird auch die Kritik an der EU-Asylpolitik immer lauter.17.06.2023 | 2:38 min
    Ein mitgereister jüngerer Bruder von Scheichi kam ums Leben. Ähnliche Angaben von anderen Überlebenden machten im Internet und in syrischen Medien die Runde.
    Die griechische Küstenwache steht nun mehr denn je in der Kritik. Behördenvertreter in Athen betonten, das Boot sei zu keinem Zeitpunkt abgeschleppt worden. An dem Kutter sei Stunden vor dessen Havarie für kurze Zeit nur eine Leine angebracht gewesen, hieß es. Doch schon seit Tagen steht auch die Frage im Raum, warum sich die Küstenwache dem Migrantenboot schon Stunden zuvor genähert, es aber nicht gerettet habe.
    Ein überfülltes Flüchtlingsboot fährt über das Mittelmeer
    Innenministerin Faeser verhandelt in Tunesien über Migration. Tunesien-Expertin Irene Weipert-Fenner und Migrationsexpertin Victoria Rietig ordnen die Beratungen ein.19.06.2023 | 30:16 min

    Überlebender: Schleuser warfen Lebensmittel über Bord

    Inzwischen werden immer mehr Berichte über grauenvolle Zustände an Bord des verrosteten Fischkutters bekannt: Neue Aussagen von Überlebenden deuten darauf hin, dass Frauen, Kinder und auch alle Menschen aus Pakistan generell gezwungen wurden, unter Deck zu reisen - während Männer anderer Nationalitäten auf dem Oberdeck bleiben durften. Der Laderaum wurde für Hunderte zur Todesfalle.
    Scheichi schilderte dem kurdischen TV-Sender Rudaw, er habe den Schleusern 4.500 Dollar für die Reise gezahlt. "Sie sagten uns, dass wir kein Essen oder irgendetwas anderes mitnehmen sollten, weil es alles auf dem Boot geben würde." Die Lebensmittel, die die Passagiere dennoch mitbrachten, hätten die Schleuser ins Meer geworfen, auch Rettungswesten habe niemand mit sich führen dürfen, so Scheichi.
    Nach anderthalb Tagen auf hoher See sei ihnen das Wasser ausgegangen. Die britische Tageszeitung "The Guardian" berichtet, dass wegen des Wassermangels bereits sechs Menschen an Bord starben - vor dem Untergang. Am fünften Tag ihrer Reise sank das Schiff.
    Mit Material von AP

    Mehr über die Flucht über das Mittelmeer