Sterbehilfe in den Niederlanden: Selbstbestimmt gehen dürfen

    Sterbehilfe in den Niederlanden:Selbstbestimmt und würdig gehen dürfen

    von Britta Behrendt
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    Vor 30 Jahren haben die Niederlande aktive Sterbehilfe liberalisiert. Das Land hat es sich mit seinem Gesetz nicht leicht gemacht. Wie ist die Situation heute?

    Sterbehilfe (Symbolfoto), aufgenommen am 30.03.2005
    Auch in Deutschland wird über die Sterbehilfe debattiert.
    Quelle: imago

    Maria "Moek" Heringa ist 2008 nach eigener Aussage des Lebens müde. Die 99-Jährige leidet unter Rückenschmerzen, Herzproblemen und ist nahezu blind. Weil ihr Hausarzt Sterbehilfe ablehnt, erfüllt Stiefsohn Albert Heringa nach vielen eindringlichen Gesprächen ihren letzten Wunsch.
    Zwei Jahre lang passiert nichts, dann erscheint ein Dokumentarfilm, in dem Heringa mithilfe der Filmemacherin Nan Rosens das Sterben seiner Mutter dokumentierte. Der Film zeigt, wie "Moek" Heringa eine Schale Joghurt leer löffelte, in den Albert Heringa zermahlene Pillen gerührt hatte. Die alte Dame starb friedlich - wie sie es sich gewünscht hat. 
    Albert Heringa wurde dafür der Prozess gemacht und verurteilt. Dennoch erreichte er das, worauf er gehofft hat: eine neue Debatte über selbstbestimmtes Sterben nach einem als "vollendet" empfundenen Leben. 
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    Frage des selbstbestimmten Sterbens

    Schon davor hatten sich die Niederländer jahrzehntelang öffentlich mit den Fragen des selbstbestimmten Sterbens beschäftigt und die Grenzen zwischen Selbstbestimmung und Tötungstabu immer wieder neu ausgelotet.
    Vor 30 Jahren folgte dann ein entscheidender Schritt bei der Liberalisierung. Am 9. Februar 1993 beschloss das niederländische Parlament ein liberales Sterbehilfe-Gesetz. Ziel des Gesetzes war es, die bis dahin meist verschwiegene Sterbehilfe besser zu kontrollieren und verbindliche Regeln für Ärzte aufzustellen.
    Offiziell legal war Sterbehilfe damit zwar noch nicht - die gesetzliche Straffreiheit für Ärzte folgte erst neun Jahre später. Doch 1993 ebnete den Weg für spätere Regelungen.

    Niederlande als Vorreiter

    2002 legalisierten die Niederlande dann als erstes Land ärztliche aktive Sterbehilfe und Hilfe bei Selbsttötung. Die Beihilfe zum Suizid, bei der jemand, der kein Arzt ist, einer Person eine tödliche Substanz zur Verfügung stellt, blieb aber illegal. Nur Belgien und Luxemburg haben seitdem Sterbehilfe in ähnlicher Form legalisiert.
    Federführend beteiligt war damals die liberale Ministerin Els Borst, selbst Ärztin. Sie wollte vor allem ihrer Berufsgruppe Klarheit verschaffen. So stellt ihr Gesetz die sechs Bedingungen fest, die ein Arzt oder eine Ärztin erfüllen muss, um straffrei aktive Sterbehilfe leisten zu dürfen:
    Es muss eindeutig feststehen, dass der Patient oder die Patientin
    • einen Todeswunsch hat,
    • unerträglich und aussichtslos leidet,
    • sich seiner/ ihrer Situation bewusst ist
    • und alle anderen Möglichkeiten der Behandlung (z.B. Palliativmedizin) ablehnt.
    • Außerdem muss ein weiterer unabhängiger Arzt zu derselben Einschätzung kommen
    • und die Sterbehilfe von einem Arzt durchgeführt werden. 

    Umdenken bei den Ärzten

    Albert Heringa wurde erst 2018 in zweiter Instanz verurteilt, denn Sterbehilfe ohne ärztliche Betreuung bleibt verboten. "Heute würde Heringas Arzt wahrscheinlich einer aktiven Sterbehilfe zustimmen", sagt Anke Nugteren ZDFheute, die als unabhängige Ärztin Fälle für aktive Sterbehilfe beurteilt.

    Wir sehen die aktive Sterbehilfe als die letzte, die allerletzte Stufe der Betreuung des Patienten. Wir wollen, dass er oder sie diesen letzten Schritt sorgenlos und sicher machen kann.

    Anke Nugteren, Ärztin

    Für Menschen, die aussichtslos leiden und die ohnehin auf der Schwelle zum Tod stehen, sei der selbstbestimmte Tod wie eine Art umgekehrter Kaiserschnitt, sagt die Ärztin. Man könne ihn planen, man habe Klarheit und die ganze Familie sei informiert und vorbereitet. Manchen Menschen gäbe gerade das die Ruhe zum Sterben.

    Sterbehilfe längst kein Tabu mehr

    2021 bekamen 7.666 Menschen in den Niederlanden ärztliche Hilfe beim Sterben. Das sind rund zehn Prozent mehr als 2020 und 4,5 Prozent aller Todesfälle, schreibt die regionale Kontrollkommission für Sterbehilfe in ihrem Jahresbericht für das Jahr 2021, die alle Fälle überprüft. 2018 waren es noch 6.126 Fälle.
    Der stetige Anstieg von dokumentierter ärztlicher Sterbehilfe zeigt, dass der selbstbestimmte Tod in den Niederlanden bekannter und akzeptiert und längst kein Tabu mehr ist.
    Auch werden die gesetzlichen Möglichkeiten breiter interpretiert, sagt Anke Nugteren. Das Kriterium von aussichtslosem Leiden kann mittlerweile auch bei einer Häufung von Beschwerden, wie bei Heringas Mutter, erfüllt sein. Auch bei psychischem Leiden und Demenz hat sich die Praxis verändert und gibt es auch Voraussetzungen für Jugendliche.
    Zurzeit liegt der Gesetzentwurf zur Sterbehilfe bei "vollendetem Leben" zur parlamentarischen Erörterung vor. Diese Debatte muss das niederländische Parlament noch führen.

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