Laufen lernen mit der "digitalen Brücke"

    Konzept der "digitalen Brücke":Wie ein Querschnittsgelähmter laufen lernt

    Jan Schneider
    von Jan Schneider
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    Was einem Forscherteam aus der Schweiz gelungen ist, könnte vielen Menschen Hoffnung machen: Sie haben geschafft, dass ein ab der Hüfte gelähmter Mann wieder laufen kann.

    Ein Mann versucht mit Gehilfe vor einem Krankenhaus zu laufen.
    Gert-Jan Oskam kann nach einem Unfall langsam wieder laufen – mithilfe von Implantaten, die ihm Forschende in der Schweiz in den Schädel und ins Rückenmark einsetzten.25.05.2023 | 1:07 min
    Gert-Jan Oskam war 28 Jahre alt, als er in China einen Motorradunfall hatte. Dabei wurde sein Rückenmark verletzt. Oskam war danach wie querschnittsgelähmt, er konnte seine Beine und teilweise auch die Arme nicht mehr bewegen:

    Ich war nicht mehr in der Lage, meine Beine zu bewegen.

    Gert-Jan Oskam

    Das war 2011. Zehn Jahre lang konnte Oskam nicht laufen. Doch einem Forschungsteam aus Lausanne ist es nun gelungen, ihm diese Fähigkeit zurückzugeben. Über eine implantierte Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle kann er seine Beine wieder steuern. Er kann nun eingeschränkt, aber eigenständig laufen, Treppen steigen und sogar unebenes Gelände durchqueren.

    Wie funktioniert das?

    Um zu gehen, muss das Gehirn einen Befehl an die Region des Rückenmarks senden, die für die Bewegungssteuerung verantwortlich ist. Bei einer Rückenmarksverletzung ist diese Kommunikation unterbrochen. Die Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle kann sie wieder herstellen. Sie besteht aus zwei Implantaten, die kabellos über eine "digitale Brücke" miteinander kommunizieren.
    Der erste Teil sitzt an der Schädeldecke des Patienten und misst, was in dessen Gehirn vor sich geht. Diese Informationen werden an einen kleinen Computer weitergeben, den Oskam in einem Rucksack trägt. Mit diesen Daten errechnet der Computer die gewollte Bewegung und übersetzt sie in Stimulierungsbefehle, die dann in Echtzeit an das zweite implantierte System weitergegeben werden. Das befindet sich im Rücken des Patienten, und aktiviert bzw. stimuliert mit Hilfe von elektrischen Impulsen die Muskulatur in Hüfte und Beinen.

    Innerhalb von fünf bis zehn Minuten konnte ich meine Hüften kontrollieren, so als ob das Gehirnimplantat aufnahm, was ich mit meinen Hüften machte.

    Gert-Jan Oskam

    Mittlerweile kann Oskam sogar kurze Strecken ohne das Gerät gehen, wenn er Krücken benutzt.

    Was ist das Neue an dieser Behandlung?

    Der Schlüsselaspekt der Behandlung ist, dass sie in Echtzeit funktioniert, meint der Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte im Klinikum Bayreuth, Dr. Rainer Abel. Bisher mussten Probanden intensiv an etwas denken und sich darauf konzentrieren, um einem Computer das Signal zu geben, ein bestimmtes Bewegungsprogramm zu starten.
    Die neue Methode aus der Schweiz funktioniere intuitiver. Wenn der für Bewegung verantwortliche Teil des Gehirns, der sogenannte Motorkortex, an eine Bewegung denkt, wird diese direkt erkannt und in Echtzeit weitergegeben. Das Auslesen der Steuerimpulse sei dabei so präzise, dass ganz gezielt sogar einzelne Gelenke bewegt werden können.

    Die Signalverarbeitung ist ausreichend schnell, dass sie für die komplexen Bewegungen beim Laufen verwendet werden kann.

    Dr. Rainer Abel, Klinikum Bayreuth

    Das Team hofft jetzt, die Technologie für mehr Patienten verfügbar zu machen. Wichtig ist ihnen dabei zu betonen, dass die "digitale Brücke" Oskan nicht nur geholfen hat, seinen gelähmten Muskel wieder zu kontrollieren, sondern offenbar auch eine Wiederherstellung der neurologischen Funktion im Körper fördert, die er viele Jahre lang verloren hatte. Das deute darauf hin, dass diese "digitale Brücke" auch das Wachstum neuer Nervenverbindungen fördere.
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    Kann der Eingriff weiteren Querschnittsgelähmten helfen?

    Der Eingriff wurde in der Schweizer Studie nur an einem einzigen Patient gemacht. Und Gert-Jan Oskam ist ein spezieller Patient. Er hatte bereits drei Jahre lang ein Implantat derselben Forschungsgruppe zur Gangverbesserung verwendet. Außerdem war er nicht komplett querschnittsgelähmt, verfügt also noch über einen Teil seiner motorischen Fähigkeiten.
    Inwieweit die Methode also auf andere Patienten, zum Beispiel mit kompletter Lähmung, übertragen werden können, bleibt abzuwarten. Auch ist der Eingriff an der Schädeldecke ein riskanter, und der Erfolg nicht garantiert. Möglicherweise ist das der Grund, warum die Studie eigentlich mit zehn Patienten arbeiten wollte, am Ende aber nur Oskam behandelt hat.
    "Wie immer bei solchen spektakulären Einzelberichten kann seriöserweise nicht auf eine Lösung für andere Betroffene geschlossen werden," sagt Prof. Dr. Winfried Mayr, der lang am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik an der Medizinischen Universität Wien geforscht hat.

    Bei manchen Patientinnen und Patienten werden ähnliche Verbesserungen möglich sein, bei sehr vielen jedoch nicht. Auch muss in jedem Einzelfall immer zwischen Invasivität, Aufwand und Risken gegenüber dem erzielbaren Nutzen abgewogen werden.

    Dr. Winfried Mayr, Professor im Ruhestand, Medizinische Universität Wien

    Aktuell arbeitet das Forschungsteam aus Lausanne mit drei weiteren Personen, deren Arme gelähmt sind. Sie wollen herausfinden, ob ein ähnliches Gerät die Armbewegungen wiederherstellen kann.
    Quelle: Mit Material von AP

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