Bergkarabach hungert und die Welt schaut zu

    Lebensmittel als Waffe?:Bergkarabach hungert und die Welt schaut zu

    Nina Niebergall, ZDF-Korrespondentin in Moskau
    von Nina Niebergall
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    Alles ist knapp in der Kaukasus-Region: Brot, Wasser, Benzin. Aserbaidschan lasse die Armenier aushungern, sagen die Menschen in Bergkarabach. Andere sprechen gar von Genozid.

    Bergkarabach geplagt von Leid und Hunger
    In dem umstrittenen Gebiet Bergkarabach sind etwa 120.000 Menschen - darunter 30.000 Kinder - eingeschlossen. Die humanitäre Lage vor Ort ist katastrophal und weitet sich aus.28.08.2023 | 2:50 min
    Das Elend hat in Bergkarabach eine Nummer. Sie bestimmt über den Platz in der Warteschlange, wer hungern muss, und wer ausnahmsweise genug zu essen bekommt.
    Kristin Balajan steht vor einer kleinen Bäckerei in Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, an, um Brot für ihre Familie zu kaufen. Aber auf der Liste stehen heute 369 Menschen und sie ist noch lange nicht dran.

    Das ist unsere Realität. Um einfach nur überleben zu können, müssen wir in einer riesigen Schlange stehen.

    Kristin Balajan

    Vergebliches Warten auf Brot

    Bevor Kristin Balajans Nummer aufgerufen werden kann, ist schon kein Brot mehr da. Sie ist leer ausgegangen. Eine ältere Frau fängt an zu weinen, als unser ZDF-Team sie anspricht. Auch sie bekomme oft nichts mehr.

    Ich habe vier Kinder, von denen drei Soldaten sind. Von morgens bis abends stehe ich in der Schlange, damit sie zu Mittag essen können.

    Einwohnerin Stepanakert

    Aserbaidschan blockiert die Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten, Benzin. 120.000 Menschen sind von der humanitären Krise betroffen, darunter 30.000 Kinder.

    Karte: Armenien - Aserbaidschan - Bergkarabach
    Quelle: ZDF

    Der Konflikt um Bergkarabach ist Jahrzehnte alt. Das weitgehend von Armeniern besiedelte Gebiet unterstand einst armenischen Fürsten, ehe es Anfang des 19. Jahrhunderts an das russische Zarenreich fiel. Mit Gründung der Sowjetunion wurde das Gebiet aufgeteilt. 1923 fiel ein Teil an die aserbaidschanische Sowjetrepublik, das Kernland wurde ein autonomer Bezirk.

    1988 stellte das Gebiet den Antrag, von der Unionsrepublik Aserbaidschan zur Unionsrepublik Armenien zu wechseln. Nach Zerfall der Sowjetunion wurde 1992 die Republik Bergkarabach ausgerufen. Sie ist allerdings diplomatisch von keinem Staat anerkannt - auch nicht von Armenien.

    Seitdem gibt es immer wieder blutige Kämpfe mit inzwischen mehreren Zehntausend Toten. Beide Seiten werfen sich Völkermord vor. 2020 kam es erneut zu einem Krieg um die Region, in dessen Folge Aserbaidschan die Kontrolle über weitere Teile gewann. Und im September 2022 hat Aserbaidschan armenisches Kernland angegriffen - mit mehr als 200 Toten auf armenischer Seite und dokumentierten Kriegsverbrechen.

    Tod durch Unterernährung

    Der armenische Außenminister Ararat Mirsojan sagte Mitte August vor dem UN-Sicherheitsrat in New York, ein Mann sei bereits an Unterernährung gestorben. Es leiden vor allem Kranke und Schwangere. Einem armenischen Ärztebericht zufolge haben sich die Fehlgeburten im Juli vervierfacht. Die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen.
    Gegam Asrjan hat seine Zahnarzt-Praxis immerhin noch geöffnet. Viele Kliniken sind schon geschlossen. Strom ist für einige Stunden da, dann fällt er wieder aus. Dann gibt es vielerorts auch kein Wasser mehr, weil die elektrischen Pumpen nicht mehr funktionieren.

    Aserbaidschan blockiert den Latschin-Korridor

    Die Blockade ist das jüngste Kapitel in einem jahrzehntealten Konflikt. Immer wieder gab es Kriege um Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Seit dem Krieg vor knapp drei Jahren führt nur der schmale Latschin-Korridor von Armenien nach Bergkarabach.
    Der wird seit Dezember blockiert. Anfangs durften zumindest Hilfsgüter noch in die Region geliefert werden. Doch seit Mitte Juni kommen nicht einmal die Konvois des Roten Kreuz oder medizinische Notfalltransporte durch.
    Angin Khachatryan hält eine Waffenattrappe in der Hand.
    Russland ist wegen des Krieges in der Ukraine geschwächt. Die Folge: In Ex-Sowjetrepubliken brechen ungelöste Konflikte wieder auf. So auch in Armenien und Aserbaidschan.03.07.2023 | 23:40 min

    Vorwurf an Aserbaidschan: "Genozid"

    Der frühere Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, spricht von einem Genozid.

    Es gibt Gründe für die Annahme, dass [Aserbaidschans] Präsident Alijev genozidiale Absichten hegt: Er hat den Latschin-Korridor wissentlich, willentlich und freiwillig blockiert.

    Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs

    Hunger werde als Waffe eingesetzt, schrieb er in einem Gutachten für die armenische Seite. Er appellierte an Russland, die USA und die Europäische Union, dies zu stoppen. "Deren intensive Konfrontation im Ukraine-Konflikt sollte nicht dazu führen, dass die Armenier ein Kollateralschaden werden", schreibt er. Doch bislang haben die diplomatischen Bemühungen Russlands und der USA keine Lösung gebracht.

    Aserbaidschan will Bergkarabach "integrieren"

    Aserbaidschan will nach Angaben von Präsident Ilham Aliyev mit seiner Blockade den angeblichen Schmuggel von Waffen nach Bergkarabach unterbinden. Aserbaidschans Botschafter bei den Vereinten Nationen, Yashar Aliyev, sagte dem Sicherheitsrat: "Aserbaidschan verfolgt die Politik, die ethnischen Armenier der Karabach-Region als gleichberechtigte Bürger zu integrieren".
    Das ist die vermeintliche Lösung, die Baku anbietet: Bergkarabach gehört aus ihrer Sicht zu Aserbaidschan und kann daher auch von dort versorgt werden. Zahnarzt Gegam Asrjan will das auf keinen Fall.

    Ich sehe nur eine Option, für die wir kämpfen und an die ich mich noch aus meiner Kindheit erinnere: die Vereinigung von Arzach und Armenien. Die andere will ich auch gar nicht hören.

    Gegam Asrjan, Zahnarzt

    Die meisten Bergkarabach-Armenier glauben nicht an ein friedliches Leben in einem aserbaidschanischen Staat. Sie fürchten Unterdrückung und Vertreibung. Deshalb ertragen viele lieber den Hunger, als sich in die Hände des Erzfeindes zu begeben.
    Nina Niebergall berichtet als Korrespondentin über Russland, Zentralasien und die Kaukasusregion.
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