Die Kalorienspiele: Als Nudelsuppe Luxus war

    Sportler in der Nachkriegszeit:"Kalorienspiele": Nudelsuppe als Top-Prämie

    von Erik Eggers
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    Eine warme Mahlzeit schöner als jede glänzende Trophäe: Heinz-Georg Sievers, Handballer des THW Kiel, erzählt in seinem Tagebuch vom harten Sportleralltag in der Nachkriegszeit.

    Spielszene aus dem zerstörten Kiel vom 14. Juli 1946 (PSV Kiel gegen THW Kiel) auf dem Sportplatz Eichhof
    Spielszene aus dem zerstörten Kiel vom 14. Juli 1946 (PSV Kiel gegen THW Kiel) auf dem Sportplatz Eichhof
    Quelle: Ausstellung "Die Zebras. Ein Jahrhundert Handball"

    Den Anstoß gibt Erika. Eine junge Frau, die ein kleines Buch mit einem Leineneinband gebastelt hat als Geschenk zum 22. Geburtstag ihres Freundes Heinz-Georg Sievers. "In Worten und Bildern sollst Du hier kundtun, was Schönes Du erlebtest", schreibt sie als Widmung.
    Es ist der 27. September 1945, ein paar Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sievers Heimatstadt Kiel liegt in Schutt und Asche. Er ist tief traumatisiert und wird später in dem Buch schreiben:

    Ich will versuchen, wenigstens einiges nicht so schwer zu nehmen. Ich bin wieder glücklich und einigermaßen heil zurückgekommen. Ich werde mich nun mit meiner freien Zeit auf den Sport stürzen und nachholen, was ich während des Krieges und durch meine Verwundung versäumt habe.

    Heinz-Georg Sievers

    Aufgeklapptes Tagebuch von Heinz-Georg Sievers
    Handballhistorisch besonders wertvoll: Das Tagebuch von Heinz-Georg Sievers.
    Quelle: Ausstellung "Die Zebras. Ein Jahrhundert Handball"

    Der Sport. Das ist für "Gockel", wie Sievers nur genannt wird, der Handball. 1940 war er als Jugendlicher in Breslau Deutscher Vizemeister geworden, mit anderen Talenten des THW Kiel. Mit ihnen zusammen wird er 1948 mit den Zebras erstmals die Deutsche Meisterschaft im Feldhandball gewinnen.

    200 Seiten Kieler Handballhistorie

    "Dieses Buch soll mein Handballtagebuch werden", heißt sein erster Satz in schöner, klarer Schrift. Zwei Jahre lang notiert Sievers alles, was er erlebt. Am Ende füllen eingeklebte Zeitungsberichte, Fotos und seine Berichte fast 200 Seiten.
    Entstanden ist auf diese Weise ein einzigartiges Dokument der Sportgeschichte, das in der neuen Ausstellung Die Zebras. Ein Jahrhundert Handball im Kieler Stadtmuseum zu den herausragenden Objekten gehört. Denn Gockels Gedanken über den Neuaufbau des THW Kiel sind nicht nur wegen des Aufstiegs in die nationale Spitze interessant.
    Porträt Heinz-Georg Sievers
    Chronist in den frühen Jahren des THW Kiel: Heinz-Georg Sievers.
    Quelle: Ausstellung "Die Zebras. Ein Jahrhundert Handball"

    Sie stellen vor allem eine dichte Erzählung der großen Not in den Nachkriegsjahren dar. Die Häuser auf den eingeklebten Fotos sind noch stark zerstört. Als die THW-Mannschaft im August 1946 auf der Ladefläche eines LKW zu einem Freundschaftsspiel aufs Dithmarscher Land fahren, nach Pahlhude an der Eider, steht im Tagebuch das Essen im Vordergrund.

    Wir erreichen Marschboden und der Anblick satter Weiden und fetter Milchkühe lässt uns, was Calorien angeht, allerhand erhoffen.

    Heinz-Georg Sievers

    Dieser Bericht kündet also von den berühmten "Kalorienspielen" - den Ausflügen großer Mannschaften aufs Land, um wenigstens für ein paar Tage den Hunger zu stillen.

    Schweinebraten im Schlaraffenland

    Auf verschiedene Quartiere verteilt, wähnen sich die Handballer jedenfalls im Schlaraffenland. Es gibt "Schweinebraten, diverse Gemüse, Gurkensalat, Nudelsuppe und Pudding und von allem so viel ich will", erfahren wir aus Sievers' Aufzeichnungen.
    Nicht alle Mägen kommen damit klar. Spielmacher Herbert Rohwer stopft so viel in sich rein, dass er enorme Darmprobleme bekommt und den folgenden Tanzabend verpasst.

    Leise Kritik am späteren Weltbesten

    Der handballhistorische Wert des Tagebuchs liegt vor allem darin, dass es das komplizierte Wachsen des Mannschaftsgefüges vor dem ersten Meistertitel sehr detailliert beschreibt. Nicht selten etwa kritisiert Sievers die Alleingänge des Scharfschützen Hein Dahlinger, der in den 1950er Jahren einer der besten Handballer der Welt sein wird. Auch moniert Sievers die stark abknickende Hüfte bei den Freiwürfen Dahlingers.

    Er zeigt Ansätze, endlich einmal uneigennützig zu spielen.

    Sievers im September 1946 über Hein Dahlinger

    Hein Dahlinger (THW Kiel) wirft im Finale um die Deutsche Meisterschaft 1948 aufs Tor
    Hein Dahlinger (rechts) - hier im Finale um die Deutsche Meisterschaft 1948 - mit dem damals ungewöhnlichen Hüftknick beim Wurf.
    Quelle: Ausstellung "Die Zebras. Ein Jahrhundert Handball"

    Irgendwann fügen sich die Puzzleteile. 1947 wird der THW erstmals Norddeutscher Meister im Feldhandball und Dritter in der britischen Besatzungszone. Dadurch tanken die "Zebras" und ihr Chronist Sievers enormes Selbstvertrauen.
    "Neuer Beginn zur Deutschen Meisterschaft", heißt es am Ende seines Tagebuchs. "Am Ende dieser Serie steht hoffentlich der Satz: Deutscher Meister 1948 wurde der TV Hassee-Winterbek."
    Ein Wunsch, der in Erfüllung ging.

    Die Ausstellung "Die Zebras. Ein Jahrhundert Handball" läuft noch bis zum 28. Januar 2024 im Kieler Stadtmuseum am Warleberger Hof, Dänische Str. 19.

    Die würdigt ein Jubiläum: Vor 100 Jahren, im Sommer 1923, wurde beim heutigen Rekordmeister THW Kiel erstmals Handball gespielt. Der Eintritt ist frei.

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